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Das alles wird einmal dir gehören, mein Sohn

Mein Vater zahlte mir seit ich fünf Jahre alt war, 50 Pfennig für jeden seiner Meinung nach guten Witz oder eine pointierte Bemerkung. Er war sehr streng in seinen Kriterien, darum wurde ich kein sehr reiches Kind, aber jedes 50-Pfennigstück freute mich. Nicht so sehr wegen der Bezahlung, sondern weil ich mich wertgeschätzt fühlte. Noch heute mache ich Witze gegen Geld, aber die Wertschätzung eines Publikums ist weniger wert als die meines Vaters. Das ewige Sohn-Dilemma: wie kann ich meinen eigenen Vater beeindrucken?

Jahre später, ich war schon lange in Wien, lud ich meine Eltern ins Burgtheater ein, weil ich dort mit meinem Kollegen zusammen auftrat. Ich hatte mir gedacht, meinem Vater imponieren zu können. Burgtheater, immerhin. Mehr Bühne geht nicht.

Nach seinem Tod blätterte ich in seinem Tagebuch und las über diesen Abend. „Burgtheater ausverkauft, aber Studentenpreise. Keine Standing Ovations.“

Aus, mehr hatte er nicht notiert. Ich blätterte weiter. „Sendung von Dirk auf 3SAT gesehen. Rausgeworfenes Geld.“

Ich beschloss, die Lektüre aus Selbsterhaltungstrieb zu beenden. Rückblickend glaube ich, in meiner ganzen Kindheit, also zwischen 5 und 12, etwa 4 Mark für gelungene Sätze verdient zu haben. Das heißt, zweimal im Jahr hab ich meinen Vater kurz beeindruckt.

Heute bin ich selber Vater. Ich zahle meinen Kindern nichts für Witze, zeige mich aber oft beeindruckt. Tagebuch führe ich auch nicht. Wenn ich sterbe, werden sie kein schlechtes Wort über sich lesen. Immerhin ein Erbe, über das man sich nicht grämen muss.

Ein befreundeter Fotograf pflegte seinen Vater über viele Jahre bis zu dessen Tod. Immer wieder deutete der Vater auf einen großen Kasten, der stets verschlossen war. „Das wird alles einmal dir gehören, mein Sohn“, sagte der Vater oft, auf den großen Kasten deutend.

Mein Freund, der ein sehr guter und gefragter Fotograf ist, blickte dann auch auf den Kasten. Der Vater nickte ihm wissend zu und tat sehr verheißungsvoll.

Als der Vater gestorben war, öffnete mein Freund den Kasten. Er war vollgerammelt mit Dutzenden alten Putzfetzen, zerschlissen und mit Brandflecken übersät.

„Mein Vater hatte 60 Jahre lang alle Geschirrtücher gehortet, wenn sie für den Gebrauch in der Küche zu grauslich wurden. Eine Kulturgeschichte des Geschirrtuchs.“

Mein Freund Gerald war irgendwie enttäuscht und gleichzeitig gerührt. Er fotografierte jedes einzelne Geschirrtuch und machte ein Buch daraus. „Das, mein Sohn, wird alles einmal dir gehören.“ Gerald von Foris heißt mein Freund, und Seite um Seite sieht man kaputte Küchentücher vor weißem Grund.

Väter sind merkwürdige Wesen. Ich hörte von einem Vater, der seine letzte Ölung bereits erhalten hatte. Die Kinder kamen spät an sein Totenbett und fanden es leer. Der Vater war, nachdem der Pfarrer ihn gesalbt hatte, noch einmal aufgestanden und auf den Balkon gegangen. Dort saß er, als seine Kinder kamen, und rauchte noch eine Zigarette.

Er dämpfte die Zigarette aus und ging langsam zurück in sein Sterbebett, wo er seine Augen für immer schloss.

So sind Väter oft bis über ihren Tod hinaus merkwürdige Figuren, von denen wir oft wenig wissen. Ich erinnere mich, dass ich kurz vor dem Tod meines Vaters bei ihm in Deutschland zu Besuch war. Er las Zeitung, ich saß daneben und hatte das Gefühl, ihm noch viel mehr Fragen stellen zu müssen. Ich wusste so vieles nicht und begann zu fragen. Ich sah sein Gesicht hinter der großen Frankfurter Allgemeinen nicht und hörte nur, wie er genervte Geräusche von sich gab. Schließlich senkte er die Zeitung und sah mich an. „Lass es doch einfach“, sagte er, und es klang gar nicht unfreundlich. Eher so, als sei es ein Unterfangen ohne Erfolgsaussicht, den eigenen Vater begreifen zu können.

Dirk Stermann
kolumniert seit Jahren im WIENER, heißt wöchentlich Österreich ­willkommen und ist erfolgreicher Autor.

Foto Header: Udo Leitner