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Der Hammer

Ich habe einen Roman geschrieben mit dem knalligen Titel DER HAMMER. Es ist eine münchhausenhafte Mischung aus Abenteuerroman und „Geschichten aus 1001 Nacht“ über einen großen österreichischen Orientalisten namens Joseph von Hammer-Purgstall. Drei Jahre bin ich in die für uns merkwürdige Welt des 18. und 19. Jahrhunderts eingetaucht, eine faszinierende Zeitreise voller grotesk anmutender, aber historisch belegter Eigenartigkeiten.

Aber während ich schrieb, drehte sich die Welt weiter. Und kurz bevor mein Hammer in die Buchhandlungen kam, erzählte mir ein Bekannter von einer Begebenheit in Zürich, die auch ein Hammer ist. Eine Geschichte aus dem heutigen Zürich. Sie ist gerade erst geschehen. Sie zeigt menschliche Abgründe einer kleinbürgerlichen Welt.

Ein Paar veranstaltete an der Züricher Goldküste, also der teuren Seite des überall teuren Sees, ein Abendessen, zu dem Freunde und Nachbarn geladen waren. Zehn Männer und Frauen saßen an dem Tisch. Es gab Fisch und Wein und Schokolade von Sprüngli. Ein vergnüglicher Abend zwischen Menschen, die auf die Sonnenseite des Lebens gefallen sind. Distinguiert ging es zu, die Musik lief in angenehmer Zimmerlautstärke. Die Fenster waren geöffnet, vom See wehte ein leichter Wind hinein. Gegen Mitternacht standen zwei Nachbarn auf, bedankten sich, man fand freundliche Worte des Abschieds. Die Nachbarn zogen sich ihre dünnen Jacken an, die es gar nicht gebraucht hätte, denn es war ein herrlicher Sommerabend, und ihr Haus war gleich nebenan. Die anderen Gäste blieben noch sitzen, plauderten und lachten auch hin und wieder, so wie Schweizer halt manchmal lachen.

Um zehn Minuten nach Mitternacht läutete es an der Tür. Die Gastgeber öffneten und blickten in die Gesichter von zwei Polizisten.

„Guete Abig“, sagten die Polizisten und kamen gleich zur Sache. Es gab eine Anzeige wegen Ruhestörung.

Wer hat uns angezeigt, fragten die Gastgeber.

Die da, sagten die Polizisten und zeigten auf das Haus der beiden Nachbarn, die bis vor zehn Minuten noch selber Gäste des Abendessens waren.

Wow, dachte ich mir. Man hört ja oft von unfassbaren Arschgesichtern, aber die beiden Schweizer haben mich noch verblüffen können. Selber mitfeiern und sich sofort nach dem eigenen Abgang belästigt fühlen, das ist eine neue Form der Undankbarkeit. Man will sich gar nicht vorstellen müssen, was die beiden veranstalten, wenn sie bei ihren Nachbarn nicht zu einem Abendessen eingeladen sind.

In einem persischen Restaurant im dritten Bezirk gibt es ­einen hübschen Gastgarten. Ab viertel vor zehn am Abend kommen die Kellner minütlich an den Tisch und bitten darum, schnell fertigzuessen, weil auf die Sekunde um 22 Uhr niemand mehr draußen sitzen darf, denn sonst würde sofort die Polizei gerufen. Und tatsächlich erschien um kurz vor 22 Uhr eine alte Frau am offenen Fenster. Sie schaute grimmig auf uns und ständig auf die Uhr. Wir schlangen das gute, persische Essen hinunter, so schnell es ging, und fünf Sekunden nach 22 Uhr hatten wir den Gastgarten verlassen und waren trotz der tropischen Temperaturen hineingegangen. Die Kellner versperrten die Tür in den Garten, aber es war zu spät gewesen. Die fünf Sekunden hatten gereicht. Wenige Minuten später stand die Polizei im Restaurant.

Vielleicht wäre es besser, wenn alle Menschen alleine im Wald wohnen würden. Obwohl, die Tiere machen auch ganz schön Krach, und so etwas wie „22 Uhr“ sagt den wenigsten Grillen oder Fröschen etwas.

Die Frau im dritten Bezirk und das Paar vom Zürcher See wären überall unglücklich. Da kann man gar nichts machen. Da kann man nur freundlich den ­Polizisten die Tür öffnen und die Musik von Zimmerlautstärke auf Kabinettlautstärke hinunterdrehen und alle Fenster schließen. Aber solche Leute wird man nie zufriedenstellen.


Dirk Stermann
kolumniert seit Jahren im WIENER, heißt wöchentlich Österreich ­willkommen und ist erfolgreicher Autor.

Foto: Udo Leitner