AKUT

EINE FRAGE DER WERTE – Istvan Herczegfalvy gibt nicht auf

Aufgeben? Aufgeben tut man einen Brief. Im Fall von Istvan Herczegfalvy sind es abertausende: Anzeigen und Beschwerden, mit denen der gebürtige Ungar seit über 45 Jahren gegen den Staat Österreich und für sein nicht verhandelbares Rechtsempfinden kämpft.

Longread (2015) von Lukas Lessing. Fotos von Manfred Klimek.

Es gibt Menschen, die können Sie nicht kaufen. Um keinen Preis. Um gar keinen Preis. Das sind nicht viele, was daran liegt, dass nur wenige Menschen ein ganz eigenes Wertesystem haben, das mit dem gängigen Wertesystem nicht zusammenhängt. Einer dieser Menschen heißt Ing. Istvan Herczegfalvy. Sein Wertesystem konzentriert sich auf einen einzigen Wert, und der heißt Gerechtigkeit.

Herczegfalvy, 72 Jahre alt, ist gebürtiger Ungar, lebt seit mehr als 50 Jahren in Österreich und arbeitet sich seit 45 Jahren hauptsächlich an der österreichischen und nebenbei auch noch an der europäischen Justiz ab. Angefangen hat alles so: Nach einer unglücklichen Scheidungsgeschichte mit anschlies-endem Rosenkrieg hielt das Glück zu seiner Exfrau und ihrem neuen Freund, einem hochrangigen Polizeibeamten, da konnte Herczegfalvy strampeln, wie er wollte. Der Inhaber eines TV-Geräte- Services fühlte sich von Amts wegen schikaniert, wurde ein paar Mal laut, zeigte an, zog vor Gericht und verlor alles – seine Firma, sein Vermögen, seine geliebten Autos, den Ford Shelby und den Lotus Elan Plus 2S. Das Gericht wies ihn in die Psychiatrie ein, auf den Steinhof, in den Pavillon für geistig abnorme Rechtsbrecher. Dort und in anderen Anstalten saß er sechs Jahre ab, bis er nicht zuletzt aufgrund einer vom WIENER losgetretenen Medienkampagne 1984 freikam. Im Anschluss zeigte er die Republik Österreich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an, gewann dort in einigen Punkten und gab in den anderen Punkten auch nicht nach. Die 100.000 Schilling, die der Straßburger Gerichtshof der Republik Österreich als richtigen Schadenersatz für sein erlittenes Unrecht empfohlen hatte, bekam Herczegfalvy nie zu Gesicht. Eingefordert hat er den Betrag allerdings auch nie, denn nach seiner Rechnung war etwas mehr fällig – 2.737.753.802 Schilling und 45 Groschen, nach heutigem Geld knapp 200 Millionen Euro für 13 Jahre Haft und Psychiatrie. Er kam aber auch ohne das Geld aus: Herczegfalvy stand zwar nach wie vor unter der Aufsicht eines Sachwalters, führte aber dennoch sein eigenes Leben – mit einer kleinen Baufirma, einer neuen Frau, einem Kind, einem dicken Auto, einem Haus und ein paar schönen Hunden.

Doch 2003 kam eine Räumungsklage – das Haus gehörte angeblich einem anderen. Ein Komplott? Rache? Justizskandal? Herczegfalvy wehrte sich und spürte wieder die Ungerechtigkeit, seinen ärgsten Feind. Er sah sich einer Richterin gegenüber, die ihn nicht verstand, nicht verstehen wollte. Um sie wegen Befangenheit zur Abgabe seines Falles zu bringen, bedrohte er in einem Schreiben ihr Leben, doch seine Rech- nung ging nicht auf: Er wurde mit der Diagnose „paranoide Persönlichkeitsstörung“ in die Justizanstalt Göllersdorf eingewiesen.

Dort sitzt er bis heute – wenn auch als Freigänger, der alle 14 Tage in der Anstalt vorsprechen muss, um sich seine Depotmedikation verabreichen zu lassen: Das Psychopharmazeutikum Risperdal, ein Medikament, das gegen Schizophrenie und andere psychische Störungen wirken soll. Häufigste Nebenwirkung laut Hersteller: Parkinson, Impotenz und auch alles andere, was gut und teuer ist. Einmal im Jahr stellt das Landesgericht Korneuburg fest, dass der Untergebrachte ein „unverändertes psycho- pathologisches Zustandsbild“ präsentiert und daher weiter in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher festzuhalten ist. Da Herczegfalvy eine neuerliche psychiatrische Begutachtung stets verweigert, basiert das gesetzlich notwendige Gutachten stets auf den Akten – mit anderen Worten: Gutachten werden aus Gutach­ten hergestellt, die Krankengeschichte aus der Krankengeschichte gespeist, bis zur identischen Wiedervorlage nächstes Jahr. Das ist das System, das Herczegfalvy als „verbrecherische Freiheitsberaubung“ bezeichnet, als „verbrecherische fortgesetzte Menschenrechtsverletzung“, als „verbrecherische Rechtsverweigerung“. Hört sich hart an – aber kann man die Krankheit eines Menschen ernsthaft nur über die Tat­sache diagnostizieren, dass er vorher auch schon krank war?

Ich muss an dieser Stelle eine kleine Befangenheit zugeben, Istvan Herczegfalvy betreffend. Ich habe vor mehr als 30 Jahren die erste Geschichte über ihn geschrie­ben, in dieser Zeitschrift, mit einem eindeutigen Titel: „Lasst Istvan Herczegfalvy frei!“ Empört über die augenscheinliche Ungerechtigkeit, die dem Manne widerfahren war – damals am Steinhof. Ich hatte dort ein von den Unmengen unter Gewalt­anwendung gespritzten Psychopharmaka zitterndes Nervenbündel getroffen, aber keinen Irren. Seitdem habe ich ein paarmal über ihn berichtet, war mit ihm zur Ver­handlung vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, und auch ein paarmal im Schweizergarten auf ein Krügel Budweiser und eine Stelze, und ich kann eines sagen: Der Mann ist nicht verrückt. Er ist auch nicht krank und nicht gefährlich. Aber der Mann ist stur. Richtig stur, und er wird keinen Zentimeter von seiner Wahrheit abrücken. Er wurde ungerecht behandelt, und das ist für ihn unver­zeihlich. Punkt, aus, Ende. Bis zum eigenen Untergang unverzeihlich.

Jetzt habe ich ihn nach Jahren wiedergetroffen, silbergrau gealtert, aber ungebro­chen. Unverändert. Seine Freiheit könnte ich wieder fordern, was aber keinen Sinn macht dieses Mal, weil die Republik mindestens genauso stur ist wie Herczegfalvy. Die „Unterbrechungen der Unterbringung“, schreibt der zuständige Richter, verlaufen „an sich problemlos“ – doch das ist für ihn noch lange kein Grund, sein Gegenüber freizulassen. Vielmehr haben sich beide Seiten arrangiert: Anlässlich jedes routinemäßigen Anstaltsbesuches fragt der Arzt, ob er das Neuroleptikum spritzen könne. Der Häftling verweigert, der Arzt fragt, ob er die Medikamentengabe mit Gewalt erzwingen müsse, der Häftling verneint, der Arzt spritzt, Herczegfalvy zeigt ihn an – genauso wie die zuständigen Staatsanwälte, Richter, Justizbeamten und Sachwalter. Stolz zeigt er sein Postbuch, eine in mikroskopisch kleiner, akkurater Handschrift geführte Zettelsammlung: 13.012 Eingaben, Anzeigen und Beschwerden, von 2002 bis heute, „alle abgewürgt“, so Herczegfalvy.

Erstellen und verwalten muss er sein Lebenswerk längst am Computer, die Anzeigenflut bekäme er handschriftlich kaum mehr in den Griff, und deren Abfertigung läuft elektronisch wesentlich effizienter. So gut wie immer ist die aber verlo­rene Liebesmüh – die Eingaben bleiben unbeantwortet, die Anzeigen werden eingestellt, meist mit der Floskel, „es be­steht kein Anfangsverdacht“. Staatsanwälte sind offenbar meist per se unverdächtig.

„Es ist sowieso schon die ganze Staatsanwaltschaft angezeigt“, sagt Herczegfalvy, „aber ich stelle trotzdem jedes Mal einen Fortsetzungsantrag, wenn sie etwas abwürgen. Ich will mir die Ungerechtigkeit nicht bieten lassen.“ Der Antrag wird dann wieder nicht beantwortet, worauf eine neue Anzeige kommt. Ein Karussell, das sich bis in alle Ewigkeit weiterdrehen könnte.

„Was würde passieren, wenn Sie keine Anzeigen mehr schreiben?“, frage ich ihn. „Sie würden mich freilassen“, sagt Herczegfalvy wie aus der Pistole geschossen, „aber das mache ich niemals. Auf das warten die Schweine nur. Bis sie endlich sagen können, jetzt ist er gebrochen, jetzt kann er entlassen werden. So funktioniert der Rechtsstaat Österreich.“

Eine Option, die für Herczegfalvy nicht in Frage kommt. Also weitermachen: Alle 14 Tage in den Knast, für die Spritze. Von 8,50 Euro Tagesgeld leben oder, besser gesagt, über­ leben. Wie das geht? Mittagessen kann er von einem Gasthaus gratis holen, den Wocheneinkauf gibt’s um 3,50 Euro bei der Caritas, das Internet sponsert ein Freund.

„Das Wichtigste ist mir aber das Papier“, sagt Herczegfalvy. „Jedes Mal, wenn ich rauskomme, fahre ich zuerst in meine Papierhandlung. Dort gibt es 500 Blatt um 3,50 Euro. Das ist meine schlimmste Vorstellung – eine Anzeige muss raus und mir ist das Druckerpapier ausgegangen …“

Der Akt Herczegfalvy im Jahr 2015 … sehr viel Papier.

Die andere Seite

Vom Justizministerium über den obersten Gerichtshof bis hin zum Oberlandesgericht und der Staatsanwaltschaft kennt man den „Fall Herczegfalvy“. Der Name ist jedem ein Begriff, und die Reaktionen sind beinahe identisch: Von mehr oder weniger leisem Aufstöhnen bis zu „das ist eine lange Geschichte“ sind alle Spielarten der Resignation dabei. Alle geben sich zunächst sehr verständig, richtig zuständig ist aber niemand. Das Oberlandesgericht kennt kein „derzeit anhängiges Verfahren“ gegen Herczegfalvy, der Fall gilt dort als abgeschlossen. Auch die Staatsanwaltschaft Korneuburg erklärt zunächst, dass ihre Zuständigkeit vorüber ist, seit der Fall abgeschlossen wurde. Wurde er letztendlich aber eben doch nicht: Laut Dr. Christa Zemanek, Präsidentin des Landesgerichts Korneuburg, wird die „verhängte zeitlich unbegrenzte Maßnahme derzeit in der Justizanstalt Göllersdorf vollzogen und vom Landesgericht Korneuburg in Zweijahresabständen geprüft. Die bedingte Entlassung wurde zuletzt abgelehnt, weil laut Gericht die Krankheits- und Behandlungseinsicht Herczegfalvys fehle und die Gefahr einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung nach wie vor bestehe. Diese Entscheidung wurde vom OLG Wien zuletzt im Dezember 2015 bestätigt“. (Sarah Wetzlmayr)