AKUT
Jakob Stantejskys 10er-Jahre
Ob früher alles besser war, ist die unnötigste Frage aller Zeiten. Es ist eh, wie es ist. Besser wär’s, man konzentriere sich darauf, die Zukunft zu leiwandisieren. In den Zehner-Jahren hat das Weltverbessern so richtig begonnen. Auf Dauerfeuer. Auf allen Kanälen. Für die Einen ein Jahrzehnt des Aufbruchs, für die Anderen eine Dekade der Verkomplizierung.
Text: Jakob Stantejsky / Foto Header: Privat
Der Autor dieser Zeilen ist als 94er-Jahrgang (pfui, Millennial!) in und mit den Zehner-Jahren zum Erwachsenen herangewachsen. Und auch wenn die Entwicklung der Welt in diesem Zeitraum ihm deshalb wohl nicht so fremd erscheint wie einem „fertigen“ Menschen, ist der Unterschied zwischen 2010 und 2019 zweifellos krass. Nicht, dass wir 2010 noch routinemäßig Frauen hinterhergepfiffen hätten, während wir absichtlich Minderheiten in unserem mit Schweröl betriebenen Panzer am Überfahren waren (obwohl …). Aber gerade die Themen Gleichberechtigung und Klimaschutz haben im Laufe der vergangenen Dekade so gewaltig an Bedeutung und Alltagsrelevanz gewonnen, dass man sich tatsächlich in einer brave new world wähnen könnte. Die Gemüter könnten allerdings gespaltener kaum sein. Von Begeisterung bis Hass wird der vielzitierten Wokeness alles entgegengebracht, was der Mensch an Emotionen zu bieten hat. Und das penetranter als je zuvor – dem Internet sei höchst zweifelhafter Dank.
Der endgültige Aufstieg des World Wide Webs zum unersetzlichen, allgegenwärtigen Medium für wirklich Alles ist DAS zweischneidige Schwert des Jahrzehnts. Information und Kommunikation so schnell, vielfältig und einfach wie niemals zuvor: genial.
Leider haben inzwischen die Ungustln dieser Welt verstanden, dass man das Internet auch perfekt als Plattform für Lügen und Hass verwenden kann. Vorreiter und Idol in dieser Hinsicht ist natürlich Donald Trump, dessen Präsidentschaftskandidatur 2016 zuerst der Witz der Dekade war, bevor er zum Albtraum wurde. Besonders online schoss er sich auf alles ein, was ihm entweder im Weg stand oder einfach nur unsympathisch war. Und zwar ohne Rücksicht auf die Wahrheit. Unter seinen Lieblingszielen war ein Mädchen aus Schweden, das 2018 die Bühne betrat und genauso polarisierte wie der orange Mann im Oval Office – nur andersherum. Greta Thunberg trat mit zarten 15 so öffentlichkeitswirksam und vehement für den Klimaschutz ein wie niemand sonst auf dem Planeten. So vernünftig und lobenswert das klingt, so unbändig war der Hass, der ihr genau von jenen Leuten entgegenschlug, die in Trump den Heiland zu erkennen vermeinten.
Natürlich bestehen die Zehner-Jahre nicht nur aus zwei Gruppen, die entweder blind folgen oder blind verabscheuen. Aber die Extreme sind immer am lautesten. Und mit dem Internet haben sie den potentesten Sender aller Zeiten bekommen. Dennoch, unterm Strich ist die Menschheit in der letzten Dekade eine Menge Schritte in die richtige Richtung gegangen. Umweltschutz wird so engagiert betrieben wie nie zuvor. Diskriminierung gegenüber Minderheiten aller Art, sei es im Kontext der Herkunft, der Sexualität, etc., wird gezielt thematisiert und bekämpft. Der Sieg ist in beiden Disziplin noch weit entfernt und wird auch nicht weltweit mit dem gleichen Enthusiasmus angestrebt. Klassiker: „Warum soll ich plötzlich Grün leben, wenn andere Länder noch Kohlekraftwerke en masse bauen?“ Ein bisschen weniger Egoismus wäre da natürlich angebracht. Schließlich sind Veränderungen dieser Größenordnung kein Sprint, sondern eher ein Marathon. Aber es wird. Auch abgesehen von hochmotivierten Öko-Freaks, die ihren CO2-Fußabdruck mit allen Mitteln auf die Größe eines Katzenpfötchens reduzieren, ist das Bewusstsein für Klimaschutz im Alltag gestiegen. Oder per Gesetz verankert worden. Beispielsweise sind Plastiksackerl beim Einkaufen in den 2010ern vielerorts verboten worden. Babysteps, mag sein. Aber dennoch mehr, als wir davor unternommen haben.
2017 erfuhr die Debatte über geschlechtliche Gleichberechtigung einen beispiellosen Anstoß. Natürlich mit einem Hashtag, wie sollte es im modernen Zeitalter anders sein? #MeToo löste einen Erdrutsch aus, der begonnen mit Harvey Weinstein bis heute zahlreiche Männer Job und Standing kostete. So sehen die Fakten aus, ganz wertungsfrei. Natürlich will und braucht niemand Vergewaltiger oder ähnlichen Abschaum. Schon gar nicht in Positionen, in denen sie Millionen von Menschen beeinflussen (neudeutsch: influencen). Beispielsweise als Schauspieler, Musiker oder Politiker. Insofern: Gut gemacht! Warum das mit der sexuellen Belästigung so ein umstrittenes Thema ist, ist sowieso ein Rätsel. Was ist so schwer daran, in dieser Hinsicht einfach nichts zu tun, was einem anderen Menschen unter Umständen unangenehm ist? Die Antwort kommt seit den 2010ern postwendend: „Man kann ja GAR NICHTS mehr sagen und machen! Da wird man sofort gecancelt.“ Natürlich gibt es manchmal wirklich Missverständnisse, die im Endeffekt unverhältnismäßige Konsequenzen nach sich ziehen. Nobody is perfect. Aber meistens liegt es doch daran, dass die gecancelte Partei nicht mit der Zeit gehen kann. Oder will. Außerdem: Im Gegenzug dazu war es vor relativ kurzer Zeit noch so, dass Frauen routinemäßig und mehr oder weniger öffentlich belästigt wurden. Alles nur Spaß, so eine Hand am Allerwertesten tut doch nicht weh. Und der herabwürdigende Spitzname ist doch nur lieb gemeint. Haha.
Für die gleiche Bemerkung über Homosexuelle verliert ein Moderator heute seinen Job, obwohl ihm in den 80ern zustimmendes Gelächter dafür sicher war. Aber damals schob man Homosexuellen auch noch ernsthaft die Schuld an AIDS zu. Humorlose Personen hat es schon immer gegeben. Dementsprechend gibt es auch humorlose Woke-isten. Aber im Großen und Ganzen lachte die Menschheit auch 2019 noch gerne, sogar über sich selbst. Es ist nur kein Witz, wenn man einfach über andere Leute herzieht. Damit ein Witz lustig (und somit erst wirklich ein Witz) ist, sollte Empathie darin stecken. Das checken viele Leute leider erst heute, wo diverse Minderheiten tatsächlich eine Stimme haben, mit der sie sich wehren können. Wieso müssen die „normalen“ Menschen sich eigentlich so unfassbar laut über die sogenannten Snowflakes echauffieren? Lasst sie doch einfach sein. Außer sie essen eurem Essen das Essen weg, wie diese entsetzlichen, verabscheuungswürdigen Veganer. Bruhaha.
Man sollte sein Urteil über jene, die im letzten Jahrzehnt den Anschluss verloren haben, aber nicht vorschnell fällen. Denn wenn Veränderung Zeit braucht, wie oben erwähnt, wird auch die Anpassung an diese neue Welt nicht schlagartig passieren. Wir können uns sicher sein, dass 2019 viel mehr Menschen Anteil an Gleichberechtigung, Klimaschutz und Co. genommen haben, als es noch 2010 der Fall war. Das Bewusstsein für diese Thematiken wurde in den Zehner-Jahren laufend geschärft und das hat zweifellos Spuren hinterlassen. Ein Beispiel für den sich wandelnden Zeitgeist: Der WIENER. Von 2010 bis 2014 waren auf 25 Prozent der Cover eine mehr oder weniger halbnackte Frau. 2015 bis 2019 nur noch auf 12 Prozent. Im Heftinneren gab es in der ersten Hälfte des Jahrzehnts noch in 76 Prozent der Ausgaben eine oder mehrere Damen oben ohne zu bestaunen. Die zweite Hälfte der Dekade kam mit 45 Prozent in dieser Hinsicht aus.Und wenn wir schon beim Thema Kultur sind: Wie geil waren die 2010er bitte in puncto Entertainment? Ja, Fast and Furious 47 bis 83 waren nicht der große cineastische Wurf. Aber 2009 waren der Mainstream noch (großteils zurecht) der Meinung, dass Serien so eine Art Unterhaltung zweiter Klasse seien. 2011 startete der einstige DVD-Verleiher Netflix mit der Entwicklung seines „original content“. Unzählige Menschen haben seitdem unzählige Stunden feinsten Entertainments gestreamt, eine völlig neue Art des Kulturkonsums. Und das zu einem unschlagbaren Preis. Wie billig Streaming den Großteil der Zehnerjahre war, wird uns spätestens in den 30ern eh kein junger Mensch mehr glauben. Der Trend der letzten paar Jahre geht nämlich zu immer mehr Anbietern, die immer mehr Geld verlangen, obwohl ihr Portfolio nur ein Bruchteil des Marktes ausmacht. Das goldene Zeitalter des Streamings liegt hinter uns, nämlich in den 2010ern.
Natürlich kann man in jeder Suppe ein Haar finden. Diese ganzen Bildschirme, an denen wir kleben. Und die Kinder, die ja gar nicht mehr draußen spielen. Fakt ist: Das Leben online hat offensichtlich seine Schattenseiten. Aber andererseits bietet es auch ganz vielen Leuten den Raum und die Möglichkeit, sich auszuleben und Gleichgesinnte kennenzulernen. Egal wie introvertiert man ist, man kann Freunde finden, mit ihnen Spiele spielen und sich wohl fühlen. Das hat natürlich mit Myspace schon 2005 begonnen, richtig nahtlos und selbstverständlich ist die Geschichte aber erst im vergangenen Jahrzehnt geworden. Kontakt zu Menschen zu pflegen, die einem lieb aber weit weg sind, ist mit leistungsstarker und kostenfreier Software wie beispielsweise Whatsapp oder Discord so natürlich und einfach wie nie zuvor geworden.
Die Reise Richtung perfekter Welt ist nicht zu Ende und wird es garantiert auch niemals sein. Ende 2019 war vieles schon ziemlich nice. Leider gab es direkt zum Start des aktuellen Jahrzehnts ein kleines Hoppala, dessen Nachwehen wir bis jetzt noch nicht verdaut haben. Inzwischen sind auch noch diverse andere Katastrophen hinzugekommen und gefühlt werden Gier und Hass aktuell wieder salonfähiger. Früher war also vielleicht doch alles besser. Aber eben nicht vor 50 Jahren, sondern vor zehn.