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Wahlsonntag 2024 in Wien
Ein Tag wie jeder andere? Gewiß. Allerdings gab ihm die Tatsache, dass an jenem Wahlsonntag 2024 erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik eine andere Partei als SPÖ oder ÖVP Platz eins bei einer Nationalratswahl erreichte, einen interessanten Spin. Und sie machte die Bilder, die an jenem Nachmittag und Abend entstanden, sozusagen zu Zeitdokumenten. Jenes Sonntags, der alles änderte.
Text & Fotos: Franz J. Sauer & Kurt Molzer
Aber wird er das wirklich tun, alles ändern? Löst der erste Platz der FPÖ bei der Wahl am 29.9. tatsächlich jenes politische Beben aus, das allernorts (und naturgemäß vor allem von den politischen Gegnern) vorhergesagt wird? Oder bleibt alles beim Alten, mit geringfügig geänderten Vorzeichen, kleinen Retuschen, viel Getöse und Gerede und letztlich aber einfach nur anderen handelnden Personen?
Dem erfahrenen Österreicher bleibt der Verdacht, dass sich gar nichts ändern wird. Nichts Gravierendes zumindest. Die nächsten Wochen werden „zaach“, das steht heute schon fest. Ebenso wie Österreich auch zum Jahreswechsel noch keine neue Regierung haben wird. Ewige Verhandlungen, lähmendes Taktieren, auch nix Neues. Und danach? Mal sehen. Vielleicht Neuwahlen.
Und doch war da was anders, an jenem Wahlsonntag. Die Stimmung, die wir einfingen, bei einem ausgedehnten Spaziergang durch die Innenstadt, mit Einkehr in legendären, Wiener Lokalitäten, die es gefühlt immer schon gab, sie roch ein bissl nach neu, die Stimmung. Nicht nach Aufbruch, wohlgemerkt. Aber doch nach anders. Und nun schön der Reihe nach.
Zunächst: Die Wahl
Zunächst begann mein höchstpersönlicher Wahlsonntag fast mit einer Panne. Ich hatte meine Wahlverständigung (oder wie das heißt) verschustert, ging also auf gut Glück in das Wahllokal meines Wahlsprengels und fragte mich durch, wo denn die Plastikbox stehen würde, in die ich meinen ausgefüllten Stimmzettel versenken sollte. Weil ich eben nichts als einen Ausweis mithatte, wurde dieser besonders sorgfältig geprüft. So sorgfältig, dass er auch dann noch bei den Wahlhelfern blieb, als ich in die Wahlkabine ging, um ihn natürlich erst recht dort zu vergessen, nachdem ich mein Kuvert brav eingeworfen hatte. Erst als ich gedankenverloren in eines jener Automaten-Cafés ohne Personal am Ende der Straße, die neuerdings an jeder Ecke sprießen, schlenderte, holte mich ein junger Mensch ein, meinen Ausweis in der Hand: „Hier, bitte, das ist doch Ihrer, oder?“ Ein aufmerksamer Wahlhelfer, der blitzschnell die Lage erkannt hatte und mir nachgelaufen war ersparte mir einen mühseligen Gang durch die Amts-Instanzen, der mir mit Sicherheit die nächsten Tage über bevorgestanden wäre. Vielen Dank, junger Freund.
Sind die Jungen also doch nicht so schlimm und bedrohlich und faul und feindlich uns alten Männern gegenüber, wie ich das sonst immer und überall wahrzunehmen glaube? Oder war es doch die Wahlwerbung, die es mir suggerierte? Verstärkt von den üblichen, regelbestätigenden Ausnahmen, die immer dann auftreten, wenn einem eine Sache immer öfter unterkommt und nicht mehr ganz geheuer ist. Es musste dies sofort erörtert werden. Naturgemäß mit einem anderen alten Sack an deiner Seite, was denn sonst, verlasse niemals deine Echokammer, deine Bubble, you know. Und weil nicht nur Wahlsonntag, sondern auch DTM-Rennen im Fernsehen war, hatte ich gute Chancen, meinen wohl- und hochgeschätzten Kollegen Kurt Molzer bei ihm zuhause anzutreffen.
„Komm Kurt, es ist Wahlsonntag. Gehen wir durch die Stadt. Machen wir einen Stimmungsbericht. A klassische Magazin-Reportage, so wie früher halt. Was meinst?“
Das Rennen war vorbei, das Mittagessen verputzt, das Wetter war auch ok, also kam er mit, der Herr Kurt. Auf Reportasch, wie wir alten Schreiber (im Unterschied zum hochmodernen „Content Creator“) sowas eben nennen.
Heldenplatz
Wir fuhren in den Ersten Bezirk, zum Heldenplatz. Dort würde unsere Reise durch den Wahlsonntag beginnen. Wahlen sind stets etwas, das ich unbewußt mit dem Wiener Heldenplatz verbinde. 1938, die Hitlerrede, eh klar. Aber auch das Lichtermeer, die Benefiz-Konzerte für Nachbar in Not oder sonstige guten Zwecke, ein Ort für Zusammenkünfte, die stets auf der Agenda haben: Es müsse sich was ändern, jetzt. Und die zumeist jener Partei ein rechter Dorn im Auge waren, die nun aller Voraussicht nach, die Wahl gewinnen würde. Die Umfragen sagten seit Wochen voraus, dass die FPÖ solide auf Platz eins liegt, vielleicht sogar jenseits der dreißig Prozent, und weit vor den in falscher Nostalgie gefangen noch immer gerne so genannten „Großparteien“. Offiziell tat man bei ÖVP und SPÖ und den Grünen und den NEOS auf cool, man wisse ja, was auf Umfragen zu geben sei. Subkutan war aber den ganzen Wahlkampf über Angst zu spüren. Angst, die mobilisierte, jeden Parteigänger all der anderen Fraktionen regelrecht aufscheuchte, sich nicht nur deutlich zu positionieren („Keine Koalition!“), sondern auch Gegenangst gegen die Angst zu inszenieren. Indem man eindringlich davor warnte, was der Österreichischen Demokratie, wie wir sie bislang gekannt hatten, nun blühen würde, wenn der nächste Kanzler Herbert Kickl hieße.
Genau jener Kickl nämlich, der bereits seit gut 30 Jahren eine wichtige Rolle als Strippenzieher in der FPÖ innehat und -hatte, schon zu jener Zeit, als noch ein gewisser Jörg Haider diese an- und von Wahlerfolg zu Wahlerfolg führte. Zwei Mal war die FPÖ seither bereits Teil einer Regierungskoalition, und das war eigentlich nie eine rechte Erfolgsgeschichte für die Partei gewesen, eher das Gegenteil. Zuerst Knittelfeld, dann Ibiza, Orte, die unterschiedliche nicht sein könnten und dennoch durch ein besonderes Band verknüpft sind: Jenes der Schicksalsorte für die FPÖ.
Der Heldenplatz war bislang eher keiner gewesen, für die Freiheitlichen. Wir parken das Elektroauto vor dem Denkmal des Prinz Eugen. Hier ist zumeist was frei, wenn man in die Stadt muss, wissen wir unverbesserlichen noch-immer-Automobilisten. Wie schon gesagt: der Heldenplatz spielte in der Politik der zweiten Republik weit weniger schicksalsträchtige Rollen als etwa Knittelfeld oder Ibiza, so richtig passiert ist hier nichts. Dafür sind auch heute noch Bilder jener unheilvollen Menschenversammlung anno 1938, als ein gebürtiger Braunauer über den Umweg Berlin auch Wien einnahm, schnell zur Hand, wenn es darum geht, vor den Rechten zu warnen. Es könne eines Tages wieder so kommen, wie damals: ein Diktator am Balkon und die Meute jubelt ihm zu. So wie eben auch vor 86 Jahren, als ja gefühlt jeder Österreicher ein Nazi war, offenbar; Alle mit erhobener Hand zum infamen Gruß, wie man es auf den Fotos und Filmen gut sehen kann. So als hätten die damaligen Jubler eine faschistische, menschenverachtende Diktatur einer blühenden, prosperierenden Demokratie vorgezogen, die Hundling, die elendigen. Wie dümmliches Wahlvieh von einem Demagogen in seinen Bann gezogen, ohne Hirn und Nachdenken über die Folgen.
Dass in Österreich damals ein keinesfalls demokratisch gewählter Kanzler Schuschnigg regierte, als Anführer des sogenannten Austrofaschismus, und dessen Vorgänger Dollfuß zuvor geschickt und with a little help from his friend, the Bundespräsident, das Parlament ausgeschaltet, also ebenso einen Polizeistaat etabliert hatte, wo Jagd auf Andersdenkende gemacht wurde (wenn freilich nicht in jener tödlichen Radikalität wie später bei den Nazis), bleibt gerne unerwähnt. Alle waren wir Schuldige, so lautet die Mär, ein Virus, das sich fortpflanzt bis heute. Das uns Österreicher heute wie damals als besonders anfällig für jegliches, faschistisches Gedankengut brandmarktet. Ihr wart doch schon immer so, ihr Ösis. Rechts bis ins Mark. Und jetzt ist es wieder so weit.
Jetzt also. Dieses „Jetzt“ hatten wir schon ein paar Mal. Und es hat stets zuverlässig der FPÖ am meisten geschadet. Andererseits: Noch nie zuvor war sie stimmenstärkste Partei gewesen.
Stadtspaziergang am Wahlsonntag
Aber noch ist es ja nicht so weit. Es ist erst 15 Uhr als Kurt Molzer und ich zum Wahlsonntags-Stadtspaziergang starten, da ist noch nix fix. Er wird uns über den Ballhausplatz führen, am Kanzleramt vorbei, hinein zum Michaelerplatz, dann über den Kohlmarkt hinüber zur Naglergasse, wo wir Kurts einstiges Wiener Domizil besuchen werden. Er wohnte dort Ende der 1980er Jahre – mein Gott, was für eine tolle Zeit! Damals, als die Medienbranche noch funktionierte, wie sie sollte, die Gehaltsschecks dick und unser Ansehen tadelfrei war, damals, irgendwann in einem längst vergangenen Jahrtausend. Von dort geht es über Freyung und Tuchlauben zum Schwedenplatz, wo der islamistische Terror vor wenigen Jahren erstmals live und direkt auch uns Österreichern seine grausliche Fratze zeigte. Vom Schwedenplatz würden wir dann über die Rotenturmstraße das Zentrum gewinnen. Den Stephansplatz, den Dom, das Stadtzentrum, den Nukleus von Wien. Erst dort, in Wiens Allerheiligstem würden wir unsere Handies zücken, um die bis dahin bereits erfolgte, erste Hochrechnung und also das vorläufige Ergebnis des Wahlsonntags zur Kenntnis zu nehmen. Enden täte unsere Reise letztlich im Kleinen Café mit einem intensiven Umweg über die legendäre Loosbar, wo man dem Ergebnis entsprechend Alkohol konsumieren würde. Schließlich braucht der Wiener immer ein bisserl einen Grund zum Trinken.
Bis 1979 war es verboten, am Wahltag Alkohol auszuschenken. Bis zu jenem Jahr also, in dem Bruno Kreisky der SPÖ ihr bislang triumphalstes Wahlerebnis bescherte, trotz angeschlagenem Gesundheitszustandes des Kanzlers, trotz kurz zuvor erlittener Zwentendorf-Niederlage, trotz weltweiter Ölkrise und angespannter Wirtschaftslage. 51,03 Prozent lautete die dritte, absolute SP-Mehrheit in Folge in Zahlen, gut zehn Prozent vor der ÖVP und eine FPÖ war mit 6,6 Prozent nicht mal in Sichtweite. Dennoch war es genau jene FPÖ gewesen, mit deren Unterstützung es Kreisky neun Jahre zuvor überhaupt erst geschafft hatte, durch Duldung einer Minderheitsregierung die ÖVP auszubremsen, Kanzler zu werden und in der Folge die Siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der Erinnerung der einheimischen Baby Boomer und Generation X-ler unverrückbar als die Beste aller Zeiten zu verankern. Aufschwung, Wohlstand, Bildung, Freiheit. Und eine Aufbruchstimmung in vielerlei, aber vor allem in kultureller Hinsicht, die nicht zuletzt zur Gründung jenes Magazintitels führte, dessen Homepage Sie gerade besuchen. Der Preis dafür: Schulden, gerne und oft vom politischen Gegner ins Treffen geführt. Schulden, die uns bis heute belasten, angeblich.
„Jetzt“ also. Dieses „Jetzt“ hatten wir schon ein paar Mal. Und es hat der FPÖ stets am meisten geschadet. Aber noch nie zuvor war sie Nummer eins.
Vier Jahre später, im Jahr 1983 war dann wieder Schluss mit der SP-Euphorie. Die absolute Mehrheit zerbrach. Quasi als letzte Aktion etablierte der alte, kranke Kreisky eine Koalition mit der FPÖ. Alles, nur nicht die Schwarzen lautete das Credo des alten weisen Mannes, auch 47 Jahre nach eben jenen Tagen des Austrofaschismus, in denen Kreisky wegen seiner „Politischen Betätigung“ als Sozialist zu einem Jahr Kerker verurteilt worden war. So kam die FPÖ 1983 zu ihrer ersten Regierungsbeteiligung, unter Vizekanzler Norbert Steger. Ein gemäßigter FPler, der sowas wie einem liberalen Flügel der Partei angehörte. Und bald darauf an einem jungen, dynamischen Oberösterreicher namens Jörg Haider zerbrach, ebenso wie die Koalition mit der SPÖ wenig später. 1986 gab es Neuwahlen, es kam zur ersten großen Koaltion, wohl unter SP-Führung. Aber dennoch ist die ÖVP seit damals durchgehend in Regierungsverantwortung. Seit 38 Jahren, bis heute. Eine Tatsache, die sie selbst oft zu vergessen scheint, wenn die Verantwortung für Missstände medienwirksam in jene Zeiten verschoben wird, als die SPÖ noch den Kanzler stellte.
Zuerst Corona, dann ein Krieg in Europa, schon wieder eine schwächelnde Wirtschaft: Die eben vergangene Legislaturperiode, seit den vorgezogenen Neuwahlen 2019, war sicherlich keine gute Zeit für Amtsträger in Regierungsverantwortung, egal welcher Färbung oder Ideologie. Und die Legislaturperiode davor, eine kurze solche, hahaha, war der bislang letzte Ausflug der FPÖ auf die Regierungsbank gewesen. Dann kam Ibiza, dann kam Bierlein, dann kamen Neuwahlen. Und ein „Experiment“, dass sich die ÖVP wohl im Rückblick gerne erspart hätte: Eine Koalition mit den Grünen als Juniorpartner.
Ungefähr damals, als die FPÖ erstmals in einer Regierung saß, wurden die Grünen gegründet.
Ungefähr damals, als die FPÖ unter Steger erstmals in einer Regierung saß, wurden die Grünen gegründet. Die Anti-Atomkraft-Bewegung und wenig später der Widerstand gegen das Kraftwerk Hainburg hatte eine Gruppe von Menschen zu einer Bewegung verschweißt, deren Anliegen durch die erstmals ins allgemeine Bewußtsein tretende, durch Industrie und Wohlstand verursachte Umweltverschmutzung Drehmoment bekamen. Die Partei rekrutierte sich ebenso aus „Jungen Wilden“, wie aus Kräften anderer Parteien, denen deren Strukturen längst zu sehr verkrusteten. 1986 dann der erste Einzug in den Nationalrat. Viel mediale Beachtung, ein Stachel im Fleisch der Etablierten. Trotzdem nie mehr als knapp 15 Prozent Stimmenanteil. Und nach dem kurzzeitigen Schock der Selbstzerstörung von 2017 bis 2019 schließlich die erste Regierungsbeteiligung neben einer mittlerweile türkisen ÖVP unter Bundeskanzler Sebastian Kurz.
Wir, Molzer und ich, kommen zum Ballhausplatz, dem Sitz des Kanzleramtes. Hier steht ziemlich viel Polizei, naheliegend, an einem Wahltag. Aber es kommt noch dicker: „Tut ma laad, es is 16 Uhr, jetz is do zua. Platzsperre. Danke, auf Wiederschauen.“ Der Herr Inspektor ist zwar freundlich, aber auch ein bissl genervt, als er die Sperrgitter zusammenzieht und Herrn Kurt und mich als allererste Spaziergänger des Nachmittags eben nicht mehr auf den Ballhausplatz lässt. Eine Demo sei angesagt, der Platz daher gesperrt, ab 16h und das ist jetzt, Ende der Durchsage, „gengan’s woanders.“ Reichlich spät für eine Demo, finden wir, kurz vor der ersten Hochrechnung, ähnlich sinnvoll wie die Donnerstagsdemo knappe zwei Wochen später, die nun schon stattfand, bevor es überhaupt eine Regierung gibt. Also gehen wir halt durch die Hofburg und über den Michaelerplatz. Auch schön, schön voll, mit Touristen, eine Tatsache, über die sich ein Kurt Molzer herrlich wortreich echauffieren kann. „Früher war das nicht so!“ meint er, was für ein Blödsinn. Als wäre es nicht schon immer so gewesen. Auch dass der Michaelerplatz ständig umgebaut wird, ist gefühlt sowas wie gesetzt. Aber dass man sich vorm Demel um einen Kaiserschmarrn anstellen muss, gut das war tatsächlich nicht schon immer so. Oder ist man als gelernter Wiener einfach viel zu wenig oft da, als dass man sowas im Alltag mitkriegen würde?
Touristen am Wahlsonntag
Den Urlaubern dort, die sich um eine fluffige Süßspeise reißen, kann es herzlich wurscht sein, ob und wer hier heute gewählt wird. Trotzdem kriegen sie mit, dass was los ist, auch hat man gehört, aus den Medien, dass hier ein Rechtsruck bevorsteht. „Fascist Party? Really? Thats their name?“ „No. Se ‚F’ of FPÖ stands for Freedom, not for Fascist. Andaständ?“ Die Amis zucken die Achseln über den Erklärungsversuch des grantigen Einheimischen und zücken ihre Handykameras. Machen das fünfzehnte Selfie in fünf Minuten. Irgendwann werden auch sie ans vordere Ende der Mehlspeisausspeisung gelangen. Und dann zum Hawelka wandern, wo sie sich erneut anstellen dürfen.
Herr Kurt biegt ab, in die Wallnerstraße, weil „das halte ich nicht aus, die ganzen Menschen, ein Wahnsinn!“ Und auch die Herrengasse ist gesperrt, rund ums Palais Niederösterreich. Viele Gitter, viel Polizei. Nur keine Demonstranten in Sicht. Nur Touristen. Erst im schattigen Haarhof kommt Kurt zur Ruhe. Und erzählt wieder aus dem Jahr 1989, als er die Grenzen des Ersten Bezirkes nie verlassen mußte, weil er in der Naglergasse 19 wohnte und die Redaktion der BUNTEN, für die er damals schrieb, am Dr. Karl Lueger Platz lag. Frühstück im Hawelka, Kaffee im Daniel Moser, abends wieder retour übers Hawelka. „Ach waren das noch schöne, gute Zeiten.“ Und diesmal stimme ich bereitwillig zu. Obwohl wir wohl beide, ganz schnell gefragt gar nicht wüßten, warum die Zeiten damals gut waren und es heute nicht mehr sind oder sein sollen.
Was war also damals so viel besser? Weniger Ausländer, weniger Migranten? Stimmt, dafür aber auch damals schon haufenweise einheimische Trotteln.
Was war also damals so viel besser? Weniger Ausländer, weniger Migranten? Stimmt, dafür aber auch damals schon haufenweise einheimische Trotteln. Geringere Lebenskosten, dafür viel mehr Gehalt? Stimmt, die Wohnung in der Naglergasse kostete damals 5.000 Schilling (!) Miete. Und trotzdem waren die aktuelle wirtschaftliche Lage, die geringe Kaufkraft und die hohen Mieten im eben vergangenen Wahlkampf kaum Themenführer. Gefühlt ging es in jeder Diskussion, in jedem Kommentar, in jedem Facebook-Post immer nur um die schlimmen Ausländer, um kriminelle Asylanten, potentielle Terroristen und überhaupt: Remigration, welch modischer Begriff, wohlklingend scheinbar vor allem in jenen Wahlgemeinden, die noch nie auch nur einen einzigen Migranten aufgenommen haben. Irgendwann kam keine Partei mehr am Thema vorbei, musste sogar die SPÖ knirschend Farbe bekennen. Kriminelle Migranten, das geht natürlich nicht, auch nicht bei uns. Sofort gab es Schelte vom linken Flügel, der sich lieber mit derart weit links stehenden Gruppen solidarisierte, die sogar für explizit deklarierte Kriminalität im Zeichen des Islamismus hartnäckig reflexartig „patriarchalen Strukturen“, also den immerbösen Männern die Schuld gibt.
Früher war alles war früher alles besser?
Unbestritten besser stand es anno 1989 um die Medienlandschaft und die damit verbundenen Berufe, also auch die unseren, und natürlich kann das auch nur jemand verstehen, der damals schon dabei war. Informationen, politische, weltpolitische, wirtschaftliche, egal welche, wurden damals durch Redaktionstätigkeiten gefiltert. Und so erst mehrfach von Fachleuten überprüft in den Abendnachrichten oder der Tageszeitung in der Abendausgabe publiziert, was dem Wahrheitsgehalt dieser Informationen grundsätzlich gut tat, aber den Machern eben jener Medien auch gewisse Machtpositionen einräumte, die diese hier und dort zu mißbrauchen verstanden. Dass ein Phänomen wie Social Media jeglicher Art von seriöser Berichterstattung irgendwann solide den Rang ablaufen könnte, hätte sich damals niemand zu alpträumen gewagt. Und heute, 40 Jahre später, haben gezielte Desinformation und lautes, multimediales Geschrei jene seriösen Recherchen, auf die wir Journalisten uns stets so viel eingebildet haben, als Hauptinformationsquelle abgelöst. Wahrheit ist keine eherne Säule mehr, nichts, auf das man zählen kann, oder auf das zu zählen man sich Leisten kann, im alltäglichen Kampf um den schnellsten Klick. Sie ist zur Variablen geworden, die sich vom lautesten Schreihals vereinnahmen lässt. Meinung ist Wahrheit, heutzutage. Und wenn Du das anders siehst, als ich, dann bist Du Teil des Problemes.
Aus politischer Kommunikation wurde Schwarz-Weiß-Denken. Entweder du bist für uns, oder gegen uns Dazwischen gibt es nichts mehr.
Es scheint, als hätte sich die politische Kommunikation im letzten Jahrzehnt weg von ständigem Diskurs und Abwägen des Für und Wieder in ein scharfkantiges, kontrastreiches Schwarz-Weiß-Denken verwandelt, befeuerte durch gezieltes Framing von allen Seiten. Womit die Rechten einst begannen, darin haben längst auch die Linken Meisterschaft erlangt: Entweder du bist gut, oder ein Nazi. Dazwischen gibt es nichts mehr. Mit Verve wurde jedes „Rechts“, das es im politischen Spektrum gab und geben soll, durch „Rechtsextrem“ ersetzt. Und jenes institutionalisierte, populistische Faktenverdrehen, inklusive all den unsäglichen Triggerworten („Gutmensch“ zum Beispiel), das erst Menschen wie Haider oder Trump zu legitimen Mitteln der politischen Kommunikation erhoben haben, haben jene, die stets am lautesten dagegen ankämpften, behende zur eigenen Methode assimiliert. Plötzlich gab es richtigen und falschen Extremismus, gute und schlechte Bevormundung, rechtschaffene und gefährliche Fakenews. Wählst du rechts, bist du dumm, verstehst gar nichts. Wir reden dann auch nichts mehr mit dir, bis Du einsiehst, was du falsch machst.
Und wenn du dann oft genug zum oberdummen Nichtsversteher ernannt wurdest, der einfach nicht und nicht zuhören will, wenn man ihm vorsagt, wie er sich zu verhalten hat, wie er sein Leben zu führen hat, nämlich genau anders, als er das sein Leben lang gewohnt war, ja dann kommt irgendwann der Tag, wo diese Art der Kommunikation ihre Bodenhaftung verliert. Und das notorische Dummerchen sich denkt: „Na gut, dann bin ich halt ein Nazi.“ Und gar nichts schlimmes mehr daran findet, einer Partei wie der FPÖ seine Stimme zu geben.
Der Rechtsruck
Bereits ab dem Frühjahr machten die ersten Umfragen ruchbar, in welche Richtung sich das Wählerverhalten beim Urnengang im Herbst drehen würde. Viel drehen musste es sich ja gar nicht erst. Die FPÖ hatte sich längst von Ibiza erholt, lief im gestreckten Galopp wieder zu alter Stärke auf, befeuert von manch unglücklicher Corona-Regelung einer überforderten, weil vor eine gänzlich neue Situation gestellten Bundesregierung. Gegen das angebliche „Weggesperrtwerden“ konnte die Freiheitliche Partei ankämpfen. Gegen die Zwangsimpfung, die es so ja nie gab. „Für die Menschen, gegen das System“ lauteten die Parolen auf lautstarken Demonstrationen trotz Lockdown. Angstmache lautete die Devise, gerne angewandt gegen faktenbasierte Wahrheiten, Wissenschaft hin, Forschung her. Irgendwann kriegt derlei eine Eigendynamik. Zuletzt mußte die FPÖ gar nicht mehr viel tun, um ihre zurechtgezimmerten Weisheiten über eigene, gut besuchte Medienkanäle unters Wahlvolk zu bringen. Während die meisten Mitbewerber händeringend um eine einheitliche, interne Linie rangen. Und ab dem Frühjahr 2024 wurde langsam klar, dass ein Herbert Kickl vor allem eines tun müsse, wollte er die Nationalratswahl mit fliegenden Fahnen für sich entscheiden: Nicht zu viel reden.
Ab dem Frühjahr wurde langsam klar, was Herbert Kickl tun müsste, um die Wahl im Herbst zu gewinnen: Nicht zu viel reden.
Die Arbeit, den Stimmenfang, oder besser, den Wählerstrom erledigten schon die anderen für ihn. Und mit jeder neuen Meldung, bei der ein Ausländer irgendwas angestellt hatte, oder sonstwie der bösen Migration die Schuld gegeben werden konnte, kam Rückenwind ganz von selbst auf. Dazu noch ein bisschen Friendly Fire aus irgend einem Flügel der gebeutelten SPÖ, ein paar verünglückte Streitereien der Koalitionspartner untereinander oder ein paar frische Arroganzen aus dem Lager der Virtual Signalling Fraktion – wer sollte einen triumphalen Wahlsieg der Blauen noch verhindern können, ausser vielleicht sie selbst?
Siebzehn Uhr, erste Hochrechnung.
Als wir bei der Ruprechtskirche ankommen, die leere Seitenstettengasse zur Synagoge hinunterblicken und den vier Todesopfern gedenken, die ein von Religion, Fanatismus und Versagertum getriebener Vollidiot (und gottlob war er ein Vollidiot, sonst wären wesentlich mehr Opfer zu beklagen gewesen!) völlig sinnlos um ihr Leben gebracht hatte, schlägt die Uhr fünf. Im Fernsehen läuft jetzt die Berichterstattung an, von Filzmaier bis Leitner sind jetzt alle in ihren Studios versammelt, die erste Hochrechnung wird verkündet. Aber wir hier, wir wissen noch nichts. Tun so, als wäre noch immer 1989, als gäbe es kein Handy, auf dem man nachschauen kann. Wir gehen über den Schwedenplatz, inmitten all der Touristen, die man von den Hiesigen insofern gut unterscheiden kann, weil sie nicht unentwegt auf ihre Smartphones starren. Wir gehen die Rotenturmstraße hinauf, klappen unsere Ohren an, wenn wir irgendwen „Na Bumm!“, „Unglaublich“ oder „Serwas, Kaiser!“ rufen hören. Wir schauen erst im Dom nach, haben wir uns vorgenommen. Und vorher geht es noch auf einen Drink ins Daniel Moser.
„Da wo sie hier sitzen, da saß immer der Falco, mit seinem Freund dem Billy Filanowsky“ sage ich ungefragt zu einem jungen Mädel, das auf der Bank in der Mitte der kleinen, feinen Tagesbar in der mitte der Rotenturmstraße sitzt. „Wer?“ „Der Falco. Kennen Sie den?“ „Ja klar. Aber woher wissen Sie das?“ „Nun, ich war damals auch schon hier. Ich bin schon so unfassbar alt …“: Kurt Molzer lacht. Es wird immer schwieriger, sich den rundherum aufschwellenden Diskussionen zu entziehen. „Der hat gesagt, der Nehammer is weg, hast Du gehört?“ Molzers Sensationslust steigt, ich versuche ihn schroff zu bremsen. Wir zahlen, gehen. Weiter richtung Zentrum. Alle, wirklich alle schauen jetzt auf ihrer Telefone.
Es ist 17h45
Am Lugeck bauen fünf Typen hastig alle Dreiecksständer der Grünen ab, laden sie verstohlen in einen Transporter. Tür zu, das Auto fährt ab. Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Ist es wirklich schon so schlimm? Werden wir gar schon bei deser Geschichte hier aufpassen müssen, was wir schreiben? Oder, wie wir was schreiben?
Rein in den Dom, in die kalte Geborgenheit der größten Kirche des Landes. Auch hier ist viel los. Touristen, natürlich. Aber auch Dompfarrer Faber. Er eröffnet die Sechs-Uhr-Messe: „Heute wurde in Österreich gewählt. Die Menschen haben sich entschieden, wer sie in der Zukunft vertreten soll. Und nun bricht die Zeit an, in der sich die politisch Verantwortlichen überlegen müssen, was das Beste für das Land sein wird …“. Ich zünde eine Kerze an, ein bissl Drama muß sein.
Dann zücken wir unsere Telefone: „Die KPÖ hat 2,7 Prozent“ sagt Kurt Molzer.