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Der Mann mit den sieben Kindern – Dirk Stermanns Kolumne im WIENER W426

Mein Vater liebte ein Schild im Fenster eines Gasthauses: Kommen Sie rein, können Sie rausgucken! Tat man es, sah man aus dem Fenster auf andere Männer, die auf dieses Schild starrten. Ein gelungenes Perpetuum mobile. Mein Vater er­zählte mir gerne die Geschichte von dem Mann mit den sieben Kindern.

Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Kinder. Eins von den sieben Kindern sagte: Papa, erzähl uns eine Geschichte. Da fing der Vater an: Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Kinder …

Begleitete ich meinen Vater in sein Lieblingsbeisl, standen wir zusammen vor dem Schild, gingen hinein, sahen hinaus auf die anderen Männer und ich bat ihn, mir die Geschichte von dem Mann mit den sieben Kindern zu erzählen. Das Leben ist ein immerwährender Kreislauf. Täglich grüßen Murmeltierpopulationen. Wir alle sind letzten Endes nur Arbeiter am Fließband des Lebens. Nur dass am Ende kein neues Fahrzeug vom Band läuft, sondern ein Sarg, aus dem man nicht mehr rausschauen kann. Vielleicht hat man bis dahin aber ohnehin schon genug gesehen. Sich satt gesehen am Gleichen. Das ist eine schöne Vorstellung. Und wenn man dann da liegt, stehen oft andere Männer vor dem Grab und starren hinunter. Und irgendwo liegt ein Mann mit sieben Kindern und irgendwo liegen auch die sieben Kinder, deren sieben Kinder wieder auf die Gräber ihrer Väter starren.

Dazwischen putzt man sich zweimal täglich die Zähne und geht zweimal im Jahr zum Zahnarzt, dessen Zahnarzt­helferin einem mit einer Zahnbürste in der Hand erklärt, wie man richtig putzt. Egal, wie alt man selber ist, und wie jung die Zahnarzthelferin. Ich bin jetzt über fünfzig und eine fünfzehnjährige Zahnarzthelferin zeigte mir, wie ich richtig putzen soll. Das ist demütigend und ­lächerlich. Ich hatte schon Zähne, als ihre Eltern noch Milchzähne hatten. Sie selber hatte eine Zahnspange und Akne und auf ihrem Handy erschien während ihrer Einschulung die Nachricht:

Bims gleich da.
Ist schon klar, ich putze schon eine ­ganze Weile, sagte ich.
Aber falsch, sagte sie.

Dafür hab ich keine Akne, Klug­scheißerin, sagte ich und erhob mich aus dem ­Behandlungsstuhl. Bims dann mal weg, schoss ich nach und verließ die Praxis, aber nur, um ein halbes Jahr später wieder dort zu sitzen, mit einem Spiegel in der Hand und einer Vierzehn­jährigen, die in ­meinem Mund mit einer Zahnbürste herumrieb. So macht man das, sagte sie, die Zahnarzthelferin­auszubildende war und glatte Haut ­hatte, sodass ich mich nicht einmal mit einem bösen Spruch aus der Derma­tologenwelt an ihr rächen konnte.

Wann immer ich beim Zahnarzt bin, habe ich das Gefühl, ich sei nie weg gewesen. Als säße ich mein ganzes Leben lang ununterbrochen auf dem Behandlungsstuhl des Zahnarztes. Genauso geht es mir aber auch mit der Kulisse von „Willkommen Österreich“. Dahinter warten mein Kollege und ich immer auf den Beginn der Sendung. Zwischen ­Kabeln und Pappwänden warten wir darauf, dass Russkaja zu spielen beginnen. Seit über zehn Jahren, Woche für Woche. Und mir ist, als wäre ich nie ­woanders. Mein Leben zwischen ­Kabeln und billigen Kulissenwänden. Darauf warten, dass etwas losgeht. Die immer gleiche Melodie, die immer ­gleiche Situation.

Zwei Kinder habe ich schon. Fünf fehlen noch, dann kann mich eins meiner Kinder fragen, ob ich eine Geschichte erzählen kann. Dann werde ich ein Schild malen und ins Fenster meines Lieblingslokals ­stellen. Ich werde meine sieben Kinder mitnehmen. Wir werden uns von außen das Schild ansehen, hineingehen und hinausschauen. Auf andere Männer mit Kindern. Und ich werde mit meiner ­Geschichte beginnen. Und eins meiner sieben Kinder, wahrscheinlich das jüngste, wird sagen: Papa, darf ich dir mal zeigen, wie man sich richtig die Zähne putzt? Und ich werde sagen: Ja, gerne. Aber warten wir bitte noch, bis Russkaja mit der Musik anfängt? Und am Boden werden Kabel liegen. Und ­irgendwann schaue ich mal nach, wohin die Kabel eigentlich führen. Es wird wahrscheinlich eine Steckdose sein. Und dort werde ich warten, bis der ­Stecker gezogen wird.

Foto: © Udo Leitner