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Man hörte die Katze jede Nacht – Dirk Stermanns Kolumne im WIENER W428

Dirk Stermanns Nachbarskatze schrie nächtens stets herzzereißend. Daraufhin stellte er sich einige Fragen: Wird das arme Tier von der Nachbarin gefoltert? Was kann er als Katzenallergiker dagegen tun? Und was hat das alles mit dem Massenmörder Jeffrey Dahmer zu tun?

Sie klang verzweifelt, als hätte sie große Schmerzen. Mehrere Tage hintereinander. Dann war wieder eine Zeit lang Ruhe. Aber kaum hatte man sich an die nächtliche Stille gewöhnt, fing es wieder an. War meine Nachbarin eine Tierquälerin? Stach sie nachts mit kleinen scharfen Gegenständen auf ihre braun getigerte Katze ein? Steckte sie die Katze in einen Sack und waterboardete sie die arme Kreatur in der Badewanne?

Wenn ich der Nachbarin begegnete, warf ich ihr böse Blicke zu. Gut, sie sah völlig normal aus, beinahe sympathisch, aber das kannte man aus der Geschichte. Man sah es den Menschen nie an, wozu sie fähig waren. Auch die Nachbarn des Massenmörders Jeffrey Dahmer hatten ihn nur als den freundlichen jungen Mann von nebenan wahrgenommen. Je freundlicher und unauffälliger jemand wirkt, umso gefährlicher scheint derjenige zu sein oder zumindest sein zu können. Jahrelang hatte ich die fixe Idee, am sichersten sei man, wenn man direkt neben einem Massenmörder wohnt, weil, wie gesagt: „Mir ist nie etwas aufgefallen. Er war immer so freundlich.“

Die Katzenfrau war vielleicht auch so ein Fall. Immer wieder überlegte ich, nachts anzuläuten, wenn die Katze wieder einmal herzzerreißend schrie. Anläuten und die Katze aus den Fängen dieser Tierquälerin befreien. Aber ich habe Katzenallergie. Meine Augen brennen, ich muss niesen, mein Hals schließt sich und ich bekomme Atemnot, wenn ich in einer Wohnung bin, in der eine Katze lebt. Das wollte ich nicht riskieren, auch wenn ich jetzt Hassmails von Tierschützern bekomme.

Aber immerhin lag ich wach im Bett und dachte mir, jemand sollte mal anläuten und nach dem Rechten sehen. Nicht ich, aber das Haus hatte ja noch mehr Bewohner. Irgendjemand musste das ja wohl auch hören, jemand, der keine Katzenallergie hatte. Aber offen­sichtlich waren die anderen Haus­bewohner entweder taub oder auch Allergiker. Niemand kam der Katze zu Hilfe. Am nächsten Morgen sah ich die Katze dann wieder übernächtigt durch den Innenhof schleichen. Sie sah zu mir hinauf, ich schloss das Fenster und nickte ihr mitfühlend aus sicherer ­Entfernung zu. Immerhin. Irgendwann hörten die Schreie auf.

Tagelang, wochenlang, monatelang. Erst dachte ich, die Nachbarin hätte die Katze jetzt endgültig zur ­Strecke gebracht, aber dann sah ich sie im Garten, einen kleinen Vogel ­völlig zerbissen in ihrem Maul. Sie ­spielte mit der Vogelleiche und schien quietschvergnügt.

Als ich die Nachbarin dann im Stiegenhaus traf, stellte ich sie doch endlich zur Rede. „Was haben Sie mit Ihrem armen Tier eigentlich angestellt? Ich hätte fast 4 Pfoten angerufen“, sagte ich scharf, und sie blickte mich entgeistert an, wie vielleicht auch Jeffrey Dahmer damals geschaut hat, als man ihm die 16 Morde nachgewiesen hatte und ihm die Totenschädel in seinem Kühlschrank zeigte. „Wie bitte?“, antwortete meine Nachbarin, und als ich ihr aufgebracht von meinen Foltervermutungen berichtete, begann sie zu lachen.

„Wirklich? Das hätten Sie mir zugetraut? Meine Katze ist rollig. Furchtbar rollig. Sie hat gewimmert, weil sie befriedigt werden wollte. Ich war aber überfordert mit der Situation und wollte sie auch nicht mit einem Kater zusammenbringen. Deshalb hat sie so gelitten.“ „Aha“, entgegnete ich entgeistert. „Das heißt, sie hat jetzt einen Sexpartner? Weil sie ja aufgehört hat, zu wimmern. Oder ist sie im Wechsel?“ „Nein, ist sie nicht. Wir haben einen anderen Weg gefunden. Radiergummis auf Bleistiften. Mit denen rubbel ich sie jetzt, wenn sie rollig ist. Ihr gefällts und ich hab mir gedacht, das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann.“

Sie masturbieren Ihre Katze?“ Ich war fassungslos.

Foto: © Udo Leitner