Film & Serie

Binge-TV: Chernobyl

Jakob Stantejsky

Die Jahrhundertkatastrophe, der Super-GAU im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl, ist Thema der HBO-Produktion Chernobyl. Ein Dokudrama, das trotz erzählerischer Freiheiten mit beklemmender Detailtreue Abläufe in der Sowjetunion vor 33 Jahren beleuchtet.

Text: Markus Höller

In Folge 1 kommt Chernobyl mit einem Cold Opening gleich direkt zur Sache. Es ist die Nacht zum 26. April 1986, die teilweise noch sehr junge und unerfahrene Mannschaft des Wladimir-Iljitsch-­Lenin-Kraftwerks bei Tschernobyl führt einen Abschalt-Test durch. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände, Bedienungsfehler und eine damals noch undokumentierte Designschwäche des gigantischen Reaktors vom Typ RBMK-1000 kommt es binnen Minuten zur Katastrophe und der Reaktorkern explodiert. So weit die allgemein bekannten Fakten. An diesem Punkt dröseln sich die Erzählstränge auf. Zum einen werden mit unglaublicher Detailtreue der Ort der Katastrophe und die Chronologie des Katastrophen­einsatzes gezeigt; Zum anderen gewähren uns die Produzenten einen Blick hinter die Kulissen der UdSSR, in die verrauchten, miefigen Zimmer der Ingenieure und vor allem der politischen Entscheider bis hinauf in die opulenten Hallen des Kreml.

Die fünfteilige Miniserie nimmt sich dabei, vor allem was die handelnden Personen aus Technik und Politik betrifft, einige erzählerische Freiheiten, die dem Format geschuldet sind. Natürlich lassen sich die genauen Abläufe des sowjetischen Systems, das immerhin drei Tage lang die potenziell global wirksame Katastrophe vor der Weltöffentlichkeit verheimlichte, nicht genau rekon-
struieren. Aber Chernobyl schafft es, das System Sowjetunion in all ihrem Obrigkeitswahn, Misstrauen, Parteidenken und letztlich ihrer bereits erkennbaren Brüchigkeit perfekt abzubilden. Vom damals noch kurz im Amt befindlichen Generalsekretär Gorbatschow abwärts bis zum Schichtführer einer äußerst rustikalen Partie von Kohlekumpels erkennen alle sofort instinktiv die immense Tragweite des Ereignisses. Gefangen jedoch in einer Gesellschaft, wo Verweigerung oder fehlende Linientreue auch das spurlose Verschwinden nach Sibirien bedeuten kann, nehmen einzelne Menschen stillschweigend ihr Schicksal in Form von massiver Verstrahlung an. Teilweise, weil sie müssen; teilweise aber mit echtem Heldenmut.

Die großteils sehr grafischen Darstellungen der entsetzlichen Auswirkungen von Strahlenkrankheit und der schier unfassbaren, zerstörerischen Wucht der außer Kontrolle geratenen Nuklearenergie machen den Zuseher nachdenklich und werfen ein weiteres Licht auf die global gerade heiß diskutierten Energiefragen. Unterm Strich aber ist der gordische Knoten aus Technik, Politik und Menschlichkeit die Substanz, die Chernobyl trägt. Denn ohne die gesellschaftlichen Mechanismen der Sowjetpolitik wäre das Unglück womöglich gar nie passiert – auf der anderen Seite hätte auch ein weniger rücksichtsloses System eine Katastrophe diesen Ausmaßes auch nicht so vergleichsweise schnell eindämmen können. Eine philosophische Frage, die sich angesichts globaler Themen wie Persönlichkeitsrechte einerseits und Energie- und Umweltpolitik andererseits noch lange diskutieren lässt.

Chernobyl, mit Jared Harris, Stellan Skarsgård, Emily Watson u.v.m.; Staffel 1 auf Sky Atlantic HD, Sky X, Sky Go und Sky Q On Demand.

Foto: Sky UK LTD/HBO