Film & Serie

Binge-TV: Too Old To Die Young

Vom verschwenderischen Umgang mit Zeit.
Zur Hochblüte des Dandytums am Anfang des 19. Jahrhunderts galt es als besonders angesagt, zum Flanieren eine Schildkröte an der Leine zu führen – als Demonstration stoischer Gelassenheit. Wie man Ende der Zehnerjahre ausgerechnet auf einem Streamingkanal ähnlich verfährt, demonstriert Nicolas Winding Refn eindrucksvoll.

Text: Markus Höller / Foto: Amazon.com Inc.

Der dänische Ausnahmeregisseur, dem wir nebst der Entdeckung des wunderbaren Mads Mikkelsen so eindrucksvolle Werke wie Drive, The Neon Demon oder die verstörende Pusher-Trilogie zu verdanken haben, hat sich erstmals an einer Serie versucht. Too Old To Die Young bricht dabei in seiner zehn Epi­soden langen ersten und einzigen Staffel mit etlichen Gesetz­mäßigkeiten des aktuellen ­Streaming-Business.

Das Setting freilich ist eher ein typisches Drama nach Shakes­peare-Art: in mehreren Akten verweben sich anfangs zwei separat laufende Handlungsstränge immer mehr bis zum unausweichlich katastrophalen Ende mit ­jeder Menge Gewalt, Blutzoll und Familiendrama.

Da ist zum einen der korrupte, kriminelle, durch und durch verrohte Polizist Martin Jones in Los Angeles, der immer tiefer in kriminelle Machenschaften einerseits und eine letztlich toxische Beziehung zu einer minderjährigen Schülerin aus reichem Haus andererseits (großartig: William Baldwin als hyperexzentrischer Milliardärs-Daddy) hineinschlittert. Auf der buchstäblich anderen ­Seite, nämlich in Mexiko, schickt sich der in den USA aufgezogene Syndikatsprinz Jesus Rojas an, ­gemeinsam mit seinem Vetter das Kartell des Onkels auf Vordermann zu bringen und letztlich mit voller Härte in den USA zu etablieren. Eine geheimnisvolle Rolle spielt dabei die mystische Yaritza, als ­Mischung von Voodoo-Priesterin, Femme fatale und unglaublich scharfer Chica famos gespielt von Cristina Rodlo. Nach und nach entdeckt der Zuseher immer neue Abgründe und Zusammenhänge, bis es zum finalen Akt kommt. ­Unter anderem auch dabei: eine Selbstjustiz-Sekte, Nazis, Kredithaie, Porno, Mädchenhandel etc. pp.

Refn inszeniert in gewohnter Manier distanziert, entweder in gleißendem Neon und bei Nacht oder in warmen Sandfarben bei Tag, lässt kühlen Synth-Pop im Hintergrund wabern und legt großen Wert auf das nahezu emotionslose Agieren seiner Hauptcharaktere. Miles Teller mit seinem markanten Profil spielt – ganz im Gegensatz zu Performances wie in Whiplash – hier mit minimaler Mimik und Gestik, so wie alle anderen Schauspieler auch.

Das herausragende an Too Old To Die Young ist aber die fast schon wahnsinnig machende bewusste Langsamkeit, mit der sich die Serie von Szene zu Szene vorarbeitet. Quälend lange Pausen bei Dialogen und ultralangsame Kameraschwenks ziehen sich zäh wie Molasse durch die gesamte Staffel und bauen geradezu unerträgliche Nervosität auf. Nicht immer entlädt sich eine derart aufgebaute Spannung; wenn es jedoch zu ­Gewalt kommt, dann meist über­raschend, ausgesprochen grafisch und mit drastischen Konsequenzen. All das wirkt durch die harten Kontraste, knackige Schärfe und intensiven Farben, die für Refn typisch sind, doppelt gut – vor allem Besitzer eines modernen 4K-Fernsehers oder Heimkinos bekommen hier einen echten Augenschmaus serviert.

Das alles hat seinen Preis, ­zumindest in der kostbaren Währung Zeit. Denn mit einer Total­laufzeit von rund 900 Minuten liegt diese Serie an der Spitze dessen, was noch bingewatch­tauglich ist. Wer sich aber wie die Schildkröten-Dandys auf den ­verschwenderischen Umgang mit Zeit einlässt und in dieses faszinierend-verstörende Moritat einlässt, wird mit einem 15-stündigen cineastischen Erlebnis belohnt, das herkömmliche Filme und Serien selten bieten.

Too Old To Die Young
by Nicolas Winding Refn und Ed Brubaker (Buch), Regie: Nicolas Winding Refn. Mit Miles Teller, Augusto Aguilera, Cristina Rodlo; 1 Staffel; Prime.