GENUSS

Nordirland – Dualität entdecken

Der Brexit steht vor der Türe und die Zukunft des Vereinigten Königreichs ist ungewiss. Eine besondere Rolle spielt dabei Nordirland, der britische Anteil an der grünen Insel. Ungeachtet der aktuellen Situation und vergangener Probleme hat sich das kleine Fleckchen Land zu einer erstklassigen Reisedestination gemausert.

Text: Markus Höller / Fotos: Northern Ireland Tourist Board (5), Getty Images (3), Markus Höller (3)

Wer so wie ich in den 80ern zur Schule ging, kennt es noch aus dem Englisch-Unterricht: die ständige Präsenz des Nordirlandkonflikts, in typisch lakonischer, britischer Art einfach nur „The Troubles“ genannt. Dreißig Jahre lang kosteten bürgerkriegsähnliche Zustände und unzählige Terroranschläge, vornehmlich durch die ein vereintes Irland anstrebende IRA, Hunderte Menschenleben. Die ohnehin immer schon klamme wirtschaftliche Situation wurde dadurch nicht besser, die irische Band U2 gründete ihren frühen Ruhm auf der Thematisierung des Konflikts, unter anderem in dem Song „Belfast Child“.

Heute freilich ist davon kaum noch was zu spüren. Die Hauptstadt Belfast mit ihren rund 300.000 Einwohnern profitiert erneut von ihrer natürlichen Hafenlage, jedoch in einem völlig anderen Kontext als noch vor 100 Jahren. Damals ein stolzer Handelshafen – immerhin Nummer 3 des UK hinter London und Liverpool – und Werftstandort, hat sich das Blatt weg von der Industrie und hin zum Tourismus gewandt. In der Stadt, in der einst in den riesigen Docks von Harland & Wolff die Titanic und ihr Schwesterschiffe Olympic und Britannic gebaut wurden, legen heute pro Jahr knapp 300 Kreuzfahrtschiffe an und ergießen Touristen aus aller Welt über die Stadt. Passend, denn der ehemalige Ort der Titanic-Werft ist heute ein holistisches Gesamtkunstwerk namens „Titanic Experience“, das ganze Gebiet rundherum heißt „Titanic Quarter“. Auch die nach wie vor funktionierenden, 90 Meter hohen gelben Kräne mit den Spitznamen „Samson“ und „Goliath“ prägen nach wie vor markant die Skyline der Stadt.
Wer sich besonders für den eingangs erwähnten Nordirland-­Konflikt interessiert, der sollte das Ulster Museum besuchen, das sich neben der nordirischen Historie in einem Sonderteil der Ausstellung der blutigen und bis heute nicht ganz vernarbten Geschichte widmet. Als sozusagen Freiluft-Pendant empfiehlt sich ein Besuch der Peace Wall, jene stellenweise bis zu acht Meter hohe und mit elaborierten Graffiti übersäte Barriere zwischen Unionists und Republicans (respektive Protestanten und Katholiken). Ein zwar farbenfrohes und pittoreskes, aber nach wie vor bitterernstes Mahnmal für gesellschaftliche und soziale Konflikte.

Sobald man Belfast und sein lebhaftes Flair verlässt, taucht man auch schon direkt in die immergrüne Landschaft der irischen Insel ein. Über sanfte Hügel erreicht man in relativ kurzer Zeit unterschiedlichste Regionen. Im Hinterland mit dem riesigen Lough Neagh, dem größten Trinkwasserreservoir der Insel, liegen viele verschlafene Orte, die hauptsächlich von Landwirtschaft leben. Sobald man sich dem Nordwesten von Nordirland nähert, nimmt das Treiben wieder deutlich zu. Kein Wunder, denn hier liegen einige der beliebtesten und wichtigsten Hotspots für Tourismus und Wirtschaft. Beispielsweise der Ort Bushmills, der namensgebend für die dort ansässige Distillery ist. Diese ist seit 1608 durchgehend in Betrieb und daher die älteste lizensierte Whiskey-­Brennerei der Welt – gleichzeitig auch die einzige in Nordirland. Alle anderen Irish Whiskeys werden in der Republik Irland hergestellt. Ein Besuch dort lohnt sich auf jeden Fall, zumal auch spezielle Abfüllungen ausschließlich vor Ort erhältlich sind.

Bushmills lohnt sich aber nicht nur für Freunde edler Brände, denn in unmittelbarer Nähe wimmelt es geradezu von lohnenswerten Zielen für unterschiedlichste Interessen. Für Golf-Enthusiasten ist ein Besuch des Royal Portrush Golf Club ein absolutes Must, er gilt als einer der anspruchvollsten und gleichzeitig schönsten Plätze der Welt. Im Juli 2019 fand hier zum ersten Mal seit 1951 wieder das traditionelle British Open statt und war mit 190.000 verkauften Tickets restlos ausverkauft!

Für historisch interessierte Nordirland-Reisende sind die nur einen Katzensprung entfernten Ruinen des Dunluce Castle einerseits und des Mussenden Temple andererseits mit ihrer exponierten Lage direkt auf den Klippen ein besonders hinreißender Anblick. Wer gerne das eine oder andere Pfund mehr investieren möchte, sollte das unbedingt in Form eines Hubschrauber-Rundflugs tun. Oder mit dem Boot die imposanten Felswände vom Meer aus bewundern – Makrelen­fischen optional!

Das unbestritten berühmteste Landmark in Nordirland haben aber weder die Kelten, Angelsachsen oder Normannen geschaffen, sondern Mutter Natur bereits vor 60 Millionen Jahren: den Giant’s Causeway. Diese unwirkliche Formation aus rund 40.000 hauptsächlich sechseckigen Basaltsäulen ist vermutlich auf eine ungewöhnliche Abkühlung heißer Lava zurückzuführen, wobei die irische Folklore natürlich eine wesentlich spannendere Geschichte rund um verfeindete Riesen auf Lager hat. Der Giant’s Causeway übt eine unglaubliche Faszination aus, zählt seit 1986 zum UNESCO-­Weltkulturerbe und wurde auch schon 1973 auf dem Album-Cover „Houses of the Holy“ der britischen Hardrock-Legenden Led Zeppelin verewigt.

In den letzten Jahren hat sich eine weitere erstaunliche Komponente im Tourismus ergeben: das Game-of-Thrones-Spotting. Ja, richtig gelesen. Die vor Kurzem erst relativ umstritten nach acht Saisonen beendete Fantasy-Fernsehserie gilt als eines der größten Medienphänomene der Zehnerjahre und wurde großteils in Nordirland gedreht und produziert. Viele der markanten Schauplätze in den 73 Episoden finden sich – mittlerweile gut beschildert – über Nord­irland verstreut und locken laufend Fans der Serie, aber auch Influencer, YouTuber und Instagramer an. Kennern sei hier ganz besonders Ballintoy Harbour und die Dark Hedges ans Herz gelegt, es ist praktisch unmöglich, hier ein schlechtes Foto zu machen.

Wer vom Städtetourismus nicht genug bekommen kann, sollte auch noch einen Abstecher nach Derry schauen. Oder Londonderry, wie es eigentlich offiziell heißt und wieder mal den noch lange nicht abgeschlossenen Friedensprozess in Nordirland hervorhebt. Der zweitgrößte Ort Nordirlands war Schauplatz und Ursprung der „Troubles“, ist von diesem Standpunkt natürlich historisch interessant. Noch imposanter allerdings sind die architektonischen Sehenswürdigkeiten der Stadt, von der beeindruckenden Peace Bridge über die uralte Stadtmauer bis zu den allgegenwärtigen, großflächigen Graffiti gibt es hier viel zu sehen und zu begehen.

Eines steht fest: Egal wie es nach dem 31. Oktober weitergeht, Nordirland wird seine einzigartige Dualität – die von einer bewegten Geschichte geprägt ist – beibehalten und weiter an Gastfreundschaft und Friedensprozess festhalten. Dieses Bemühen sollte man als Tourist mit einem baldigen Besuch unbedingt honorieren. Darauf einen Bush­mills. Sláinte!

Der unglaubliche Mr. DeLorean
Der DMC DeLorean mit seinen markanten Flügeltüren und der Edelstahl-Karosserie ist seit seinem Auftritt in „Zurück in die Zukunft“ eines der bekanntesten Autos aller Zeiten. Nur rund 8.500 Fahrzeuge wurden von der DeLorean Motor Company jemals gebaut – und zwar alle in Belfast. John DeLorean, der als Management-Wunderkind bei GM für legendäre Fahrzeuge wie den Pontiac GTO und Firebird verantwortlich zeichnete und öffentlich wie ein Rockstar lebte, wollte unbedingt seinen Traum der eigenen Motor Company leben. Steuerversprechen und Zuschüsse durch die Thatcher-Regierung lockten ihn nach Nordirland, wo die DMC-Fabrik zumindest einige Jahre lang ein paar Tausend Jobs sichern konnte. Jedoch: Das Auto flog bei Kritikern und Konsumenten durch, der Rest ist Geschichte. Heute werden auf dem Firmengelände Flugzeugteile von Bombardier gefertigt. Die ganze irre Geschichte rund um John DeLorean ist in Kürze in „Framing John DeLorean“ mit dem großartigen Alec Baldwin in der Hauptrolle zu sehen!