AKUT

Uff, was war das für 1 naises Jahrzehnt?

Und wenn alle von der Brücke springen, springt der WIENER mit. Nur halt mit viel mehr Verve. Deshalb gibt’s auch bei uns den großen 2010er-Rückblick. Widerstand ist swaglos.

Text: Maximilian Barcelli, Jakob Stantejsky / Foto Header: Getty Images

Es heißt ja, dass alles seine Vor- und Nachteile mit sich bringt. Das gilt, egal, welche persönliche Meinung man hegt, auch für das vergangene Jahrzehnt. Es war nicht alles super, manches hat sich sogar gravierend ver­schlimmert, aber auch vieles ganz entscheidend zum Besseren gewandt. Eines steht aber ganz absolut und unbestreitbar fest: Die Welt ist seit 2010 digitaler geworden als wir uns das je hätten vorstellen können, in jedem Lebensbereich. Wer wirklich will, bekäme wohl seinen ­gesamten Alltag über diverse Apps, Onlineservices und -dienste gebacken. Nur aufs stille Örtchen und ins Bett muss man noch aus eigener Kraft gehen, doch auch dorthin können einen der Lieblings-YouTuber und die präferierte Insta-Influencerin begleiten – Smartphone sei Dank (?). Damit wären wir auch schon beim vielleicht wichtigsten neuen Ding, das in den Zehnern richtig groß geworden ist: Social Media haben sich mittlerweile vom coolen Gimmick zum Alltags-Allgegenwärticum entwickelt, das jeder kennt und so gut wie jeder nutzt. Doch was bedeutet das eigentlich für uns – menschlich betrachtet?

Einerseits bleibst du im Kontakt mit Personen, mit denen du eigentlich gar keinen Kontakt möchtest. Ohne Facebook wüsstest du nicht, dass Großtante Emma aus den Staaten eben Trump wählen war, weil die Tschuschen der USA, also die Mexikaner, die Traumjobs bei „Wendy’s“ und „Subway“ stehlen. Außerdem richtet der schon damals merkwürdige Ex-Klassenkamerad seiner bemitleidenswerten 100-Mann-Fangemeinde (und 100-Frau-, weil Gender auch großes Thema der 2010er-Jahre, dazu später mehr) via Instagram aus, wie faszinierend doch die Modelleisenbahn-­Messe in Mecklenburg-Vorpommern war. Schon interessant, so eine Siemens ES64P im Kleinformat. Und das Dorfgspusi von vor 15 Jahren bereichert dich mit einem ur intellektuellen Spruch. Keine Ahnung, wie du ohne die Weisheit „Um glücklich zu sein, muss manchmal vergessen werden, was nicht mehr zu ändern ist.“ bis dato ­leben konntest.

Doch Social Media haben auch negative Seiten. Influencer inszenieren ununterbrochen ihr perfektes Leben samt perfekten Körpern auf Insta und Co. Und du hockst zuhause vorm Fernseher, guckst Netflix und vernichtest eine Pizza von der Größe eines Lkw-Reifens. Vielleicht fühlst du dich also gar nicht scheiße, weil du nicht vergisst, was nicht zu ­ändern ist, sondern weil du ständig mit perfekten Welten und perfekten Körpern zwangsbeglückt wirst. Wir behaupten jetzt mal: Dass im nun auslaufenden Jahrzehnt plötzlich alle im Fitnesscenter pumpen sind, hat weniger mit Gesundheit zu tun als mit Neid und Eifersucht. Nach dem Motto: „Ich will auch so aussehen wie dieser Blogger-Adonis mit Doppelnamen.“ Kannst du auch. Einfach ­#healthy leben und statt der Lkw-Reifen-Pizza mal einen Salat snacken. Aber bitte nicht, um anschließend öffentlich kundzutun, was für ein geiler Hengst mit 44er-Bizeps du bist, sondern weil ein Herzinfarkt mit 45 nur so semi geil ist. ­Wobei vom Salat ja der Bizeps schrumpft, wie wir dank Kollegah wissen. Deutschrap – auch so etwas, dass in den 2010er-­Jahren zwar nicht entstanden, aber jedenfalls massentauglich geworden ist. Und wenn wir schon bei der breiten Masse sind: Wer nicht mit einer solchen kommunizieren möchte, sondern „Face to Face“ (oder was zumindest heutzutage darunter verstanden wird), der kann auf ein anderes Werkzeug als Facebook oder Instagram zurückgreifen. Der Brief ist damit nicht gemeint – okay, Boomer?

WhatsApp heißt seit 2009 das Zauberwort, wenn es um Kommunikation geht. Denn mit dem Messenger-Dienst, der mittlerweile – so wie alle unsere Fotos – natürlich auch Facebook gehört, kannst du nicht nur endlos lange Nachrichten texten (Wer erinnert sich noch ans Zeichenlimit der SMS?), sondern auch noch nach Herzenslust Bilder, Videos und Sprachnachrichten verschicken. Und das, weil es ja mittlerweile sowieso keinen Handytarif ohne mobiles Internet mehr gibt, noch dazu quasi völlig gratis! Teilweise wohl auch umsonst, wenn man sich die unvorstellbaren Massen an Daten anschaut, die die Menschheit jedes Jahr über WhatsApp in den Äther bläst. Da muss schon verdammt viel heiße Luft dabei sein. Nur so als kleiner Einblick: Über 60 Milliarden Nachrichten werden über die App jeden einzelnen TAG verschickt. Und das von „nur“ 1,5 Milliarden Usern. Dass davon wirklich alles wichtig und nötig war, sei an dieser Stelle nicht nur bezweifelt, sondern direkt verneint. Frag dich doch mal selbst, hm? Damit dürfte dieser Punkt auch schon hinreichend bewiesen sein. Gar kein Thema, WhatsApp und Co. sind schon verdammt praktisch. Informationsaustausch geht so schnell und präzise wie nie zuvor, was der immer rasanteren Welt, in der wir leben, natürlich entgegenkommt. Einerseits macht es uns das Auskommen leichter, aber andererseits bleibt die Frage hängen, ob nicht genau diese hilfreichen Gadgets dazu geführt haben, dass gerade in den 2010er-Jahren die ­Themen Stress und Work-Life-­Balance so immens wichtig ­geworden sind.

Ausspannen und erholen ist also angesagt, damit du morgen wieder gegen all die Trolls, die dich im Internet belagern, ankämpfen kannst. Und das geht am besten mit Netflix & Chill. Denn wenn etwas in den 2010ern merklich an Qualität gewonnen hat, dann (TV-)Serien. Über so manchen Kinofilm lässt sich mittlerweile nur müde die Nase rümpfen, wenn man ihn mit ­diversen erstklassigen Netflix-Eigenproduktionen vergleicht. Deshalb spielen inzwischen auch die größten Superstars in mehrstaffeligen Serien mit, die von Streamingportalen wie Netflix und Amazon Prime mit gigantischen Budgets auf­gezogen werden. Bedroht sind davon dann logischerweise die Kinos und die Bücher, aber der Trend zur Serie ist und bleibt unaufhaltsam. Netflix & Chill war ursprünglich gar nicht so harmlos gemeint, wie es jetzt vielleicht klingt. Denn es handelt sich dabei nur um einen Code, mit dem du die nächst­beste Tinder-Chica „subtil“ dazu aufgefordert hast, dich ­zuhause zu besuchen, damit ihr dort dann vor dem laufenden Fernseher in erotische Stimmung kommen könnt. Dann geht es ab ins Bett, und dort wird die von dir ­eigens in stundenlanger Kleinarbeit gestaltete Spotify-­Schnacksel-Playlist gestreamt, während der bitte konsensuelle Kampf Mann gegen Frau steigt.

Damit wären wir auch schon bei einem der wichtigsten Themen dieses Jahrzehnts: der Gleichberechtigung der Geschlechter. #MeToo ist wohl der bekannteste Hashtag aller Zeiten und verliert seine Relevanz einfach nicht – einerseits gut so, andererseits natürlich auch traurig. Vom simplen Ausruf „Auch ich wurde von einem Mann sexuell belästigt!“ bis hin zu einer welt­umspannenden Massenbewegung für Gleichstellung ging die Reise bisher, und sie dürfte noch lange nicht zu Ende sein. Die damit einhergehenden Veränderungen sind mannigfaltig.

So darf man(Mann) beispielsweise seinen Testiculus nicht mehr ­ungehemmt in der U-Bahn schaukeln lassen. Und das in Wien mittlerweile hochoffiziell: „Sei ein Ehrenmann und halt deine Beine zam!“, postulierten die Wiener Linien im November auf Social Media. Selbstverständlich mit einem ordnungsgemäßen #Manspreading ver­feinert. Doch was steckt eigentlich hinter dem Phänomen Man­spreading? Also außer der Verdammnis der Hoden, für immer und ewig (oder für die Dauer der Fahrt) an den Innenschenkeln zu kleben. Laut Wikipedia tauchte der Begriff erstmals 2014 auf. Durch eine Kampagne der Metropolitan Transportation Authority nahm er dann so richtig Fahrt auf – zumindest in den USA. Bis er letztendlich mit klassischer Verzögerung von ein, zwei Jahren zu uns nach Europa rüberschwappte. Madrid machte es Seattle und New York City gleich, brachte Verbotsschilder an, die den Herren der Schöpfung das Breitmachen der Beine untersagen. Kleiner Fun Fact: Als die Wiener Linien auf die Initiative der spanischen Hauptstadt von 2017 angesprochen wurden, meinten diese noch, dass Manspreading für die Fahrgäste und somit auch für sie selbst kein übergeordnetes Problem wäre – anders als stark riechendes Essen.

Zwar ist der Begriff selbst erst in den 2010er-Jahren aufgetaucht, das Phänomen ist allerdings so jung wie Großtante Emma aus den Staaten – und die ist schon über 90! Japan kämpfte beispielsweise schon in den 70ern gegen das Problem. Und ja: Männer, die sich rücksichtslos im öffentlichen Raum breit machen und andere Menschen beengen, sind ein Problem. Hashtag Realtalk und so. Sei dahingestellt, ob sie es deshalb machen, weil sie ­patriarchalische Macho-Arschlöcher sind. Vielleicht sind es ganz simpel Egoisten. Oder Männer, die es gerne bequem haben. Aber sorry, U6 fahren ist halt nicht bequem. Also nimm gefälligst deine Beine zusammen, deine Eier überleben das schon. Versprochen.

Natürlich ist Manspreading auch nur ein Teil des großen Ganzen. Gender und Gleichstellung der Frau waren das große Thema dieses Jahrzehnts – und bleiben hoffentlich auch eines im nächsten. Denn selbst wenn die Geschlechterrollen langsam aufbrechen, gibt’s da noch einiges an Nachholbedarf. Was mittlerweile auch Politiker (und in diesem Sinne: Politikerinnen) begriffen haben – zumindest manche.

Andere hingegen sind viel zu sehr damit beschäftigt, America wieder great zu machen oder auf Ibiza schmutzige Fußnägel zu beäugen. Doch auch damit kann man derzeit Kult werden und egal, wie viel Abscheu man auch erregt, scheinbar stehen gleichzeitig verdammt viele Leute auf den gequirlten Schwachsinn, den diese Figuren verzapfen. Deshalb steht der eine auch vor der möglichen Wiederwahl zum US-Präsidenten, und der andere streckt verzweifelt seine Hand nach der langersehnten Bürgermeisterkrone Wiens. Ob man sie nun ertragen kann oder nicht, einen guten Teil dieses politischen Jahrzehnts haben die beiden maßgeblich mitgeprägt – global oder lokal –, und deshalb werden sie in die Geschichte der 2010er definitiv eingehen. Dass es gerade in politischen Funktionen immer wieder abschreckende Beispiele gibt, ist allerdings nichts Neues. Doch der Widerstand in der breiten Masse wird gerade in den letzten Monaten immer stärker. Das tragende Medium dabei? Natürlich das manchmal doch gar nicht so böse Internet. In Hongkong kämpft die Bevölkerung seit Monaten ununterbrochen um ihre Freiheit, in Südamerika werden gerade die ersten großen Erfolge erzielt. Wer weiß, vielleicht ist das Ende der Zehner-­Jahre tatsächlich der Beginn wirklich drastischer Umwälzungen. Die immer engere Vernetzung des Einzelnen hätte ­dabei jedenfalls garantiert eine große Rolle gespielt. Mal schauen, was wir in zehn Jahren über die 20er schreiben.

Doch es gibt noch einen weiteren Missstand, gegen den zurzeit viele Menschen und auch manche Politiker (je nach Ausrichtung) ankämpfen: Der Klimawandel soll endlich unter Kontrolle gebracht werden. Die ikonische Vorkämpferin dabei ist derzeit eine sechzehnjährige Schwedin (wann wird die eigentlich endlich 17?), die klimaneutral über den Planeten schippert. Greta Thunberg, kennst du? Und egal, ob du dich jetzt als Fundi oder Petrolhead identifizierst, eines ist nicht zu leugnen: Die Arena ist eröffnet, gefightet wird um die Richtung, die die Menschheit in puncto Ökologie nehmen soll. Und das bewegt die Massen – wäre auch entsetzlich, wenn nicht. Oft scheint das Thema auch zur Bühne für den Kampf Jung gegen Alt zu werden, wobei da auch nicht schwarz-weiß gepinselt wird. Es gibt genauso Pensionisten, die sich ein Elektroauto zulegen, wie Schüler, die vom Ferrari träumen. Trotzdem, Baby­boomer gegen Generation X gegen Millennials gegen Generation Z könnte der nächste ganz große Battle Royale nach „Fortnite“ werden. Da geht es dann um Klima, Freiheit, Gender und alles andere wohl auch noch. Und Identifikationsfiguren werden weiterhin eine ungemein wichtige Rolle einnehmen. Denn egal, ob In­fluencer, Politiker, Schauspieler, Sänger, Aktivist oder „Symbol“ – der Personenkult war ein essenzieller Bestandteil der 2010er. Denn ohne ein in irgendeiner Weise ansprechendes Aushängeschild geht es doch nicht. Oberflächlichkeit könnte man das nennen. Und die war in den letzten zehn Jahren verdammt omnipräsent. Kein Wunder, wenn sich Krethi und Plethi täglich vor einem ­Publikum von mehreren Hundert Menschen inszenieren ­können (oder müssen). Aber das weißt du eh, oder? So aus ­eigener Erfahrung.

Apropos Schauspieler und Sänger – was war in den 2010er-Jahren eigentlich punkto Popkultur so los? Klar, die letzten großen Movies sind uns alle noch im Gedächtnis. Brad Pitt, der mit einer vollen Hundefutterdose und einem schwung­vollen Wurf das Gesicht eines Mitglieds der Manson Family demoliert. Oder das verzweifelte, unwillkürliche Lachen von Joaquin Phoenix. Doch auch der Anfang des Jahrzehnts hat einige Kino-Schmankerln mit sich gebracht. Nolans Meisterwerk „Inception“ etwa. Außerdem „Ziemlich beste Freunde“. Dann gleich zwei Filme, die das Thema Sklaverei in den USA behandeln – mit Tarantinos „Django Unchained“ auf skurrile, mit „12 Years a Slave“ auf melancholische Art und Weise. Übrigens: Den erfolgreichsten Film aller Zeiten brachte mit „Avengers: Endgame“ ebenfalls dieses Jahrzehnt hervor. 2,796 Milliarden US-Dollar spielte er ein. Summa summarum waren die 2010er-Jahre sicherlich nicht die schlechteste Dekade für Kinojunkies. Was sich allerdings beobachten lässt – nicht nur in Film und Fernsehen, sondern auch in der Musik: Immer öfter werden Werke aus der Vergangenheit neu aufgelegt. Egal, ob Songs wie „Supergirl“ von Reamonn oder „Ain’t Nobody“ von Rufus und ­Chaka Khan oder Filme wie „Godzilla“ und „Star Wars“. Doch unterm Strich schmeckt aufgewärmt halt doch nur ­Gulasch gut.

Weshalb wir jetzt auch die Schwelgerei einstellen, die letzten, rund 5.257.440 Minuten dort ruhen lassen, wo sie hingehören – in der Vergangenheit – und voller Enthusiasmus und Zuversicht in die Zukunft blicken. Weil was anderes bleibt uns ja eh nicht über. Außerdem ist Skrillex nicht mehr in den Charts, Bin Laden hat’s erwischt, und der Uranus hat seit seiner Entdeckung 1846 endlich auch eine Sonnenumrundung hinter sich gebracht. Also ,wie eingangs erwähnt: Alles hat seine Vor- und Nachteile (außer die Kreuzung von Pizza und Burger, die hat nur Nachteile). Wir lesen uns dann im nächsten Jahrzehnt. ×