AKUT

Noch Lust?

Die Auswirkungen von Covid-19 zeigen, dass so richtig freier Sex, wie man ihn vor vierzig Jahren kannte, wohl nie wiederkehrt. Doch Aufriss und One-Night-Stand waren schon vorher kein Alltag mehr. Was bleibt? Was geht? Der WIENER gibt Antwort.

Text: Manfred Klimek / Foto Header: Christina Noélle

Während in den Vereinigten Staaten homosexuelle Männer wie die Fliegen starben und auch die ersten heterosexuellen Personen beiderlei Geschlechts an der neuen „Schwulenpest“ – eine Zuordnung, die heute so nicht mehr möglich wäre – erkrankten und ebenfalls in den Sterbezimmern der Spitäler landeten, feierte man auf dem europäischen Kontinent Ende der 1980er-Jahre die letzten Tage der wirklich freien Liebe. Sich in Kneipe, Bar oder Disco zu treffen, um dann mit mehr oder weniger Alkohol intus zu ihm oder zu ihr zu fahren und dort das erigierte Glied in die feuchte, meist unrasierte Scheide zu schieben – mit drin Abspritzen, denn sie nahm ja die Pille: Damals ging die letzte Zeit des unbeschwerten Sex zu Ende. Der kam nie wieder. Es kam Aids, jetzt ist Corona. Unbeschwerter Sex wird nie wieder kommen. Er war nur kurz zu Besuch.

Foto: Wikimedia Commons

Abgesehen davon, dass in der Zeit vor Aids jegliche Verantwortung der Verhütung auf die Frau und ihre Pille abgeschoben wurde und es Männer gab, die das Verlangen, ein Kondom überzustreifen, als Beleidigung und Ehrverlust ansahen, war es natürlich auch der Medizin und der Pharmaindustrie ­zuzurechnen, dass man Geschlechtskrankheiten, wenn sie dann – selten aber doch – auftraten, mit vorhandenen Mitteln niederkämpfen konnte. „Pudern“ war nach Jahrhunderten Tripper, Syphilis und Lues ganz plötzlich ungefährlich geworden. Also wurde gepudert. Auf Teufel komm raus. Die letzte Zeitzeugen-Generation der richtig freien Liebe, die trotz der verantwortungslosen Abschiebung jeder Verantwortung an die Frau beiden Geschlechtern gefiel. Da erinnert man sich gerne, wie es früher war. Aber das Früher war nur zu Besuch. Und besucht uns ältere Männer (und auch die mit uns ­gealterten Frauen) nie wieder.

Es ist also Humbug, aus dieser Perspektive und mit dieser Erfahrung über „Sex nach ­Corona“ zu schreiben. Humbug deswegen, weil die meisten männlichen wie weiblichen ­Leser hier längst nicht mein ­Alter erreicht haben – da stehen zwanzig und mehr Jahre dazwischen. Humbug auch, weil es eine Anmaßung ist, wenn ein bald Sechzigjähriger, der Sex denkt, aber Sex nicht mehr – und wenn, dann nur mit Hilfe von Drogen – richtig leben kann, jüngeren Lebensgenossen erzählen will, wie Sex nach ­Corona aussehen soll. Eben auch, weil er noch Sex genossen hat, als dieser wirklich frei war.

Will man also für diejenigen schreiben, die mit Sex noch was am Hut haben, dann muss man sich an sich selbst erinnern. Wie man war, als man 25 oder 30 war, als man geil war, nicht nur nach Leben, sondern nach Leben mit Fleisch und den Austausch von Körpersäften, als man sich als Mann weder an Frauen noch an ­Materielles binden wollte, sondern nur an die nie vergehende Lust, einen anderen Körper zu fühlen, zu schmecken und zu spüren. Eine Zeitreise in die Zeit ohne Haus am Land und Saab-Cabrio.

Foto: Christina Noélle

Zu dieser Reise in seine eigene Vergangenheit muss man sich zudem in die Lage der heute ­Jungen einlesen. Und das tut man am besten im Zen­tralorgan der verlorenen, jungen Seelen, der deutschen Onlineplattform „Zeit Online“, die mit ihrem politisch korrekten Ableger „ze:tt“ seit Jahren schon die Nabelschau dieser so betulich scheinenden Generation besorgt. Und ja, tatsächlich: Diese Generation, die zwischen 1985 und 1995 Geborenen, sind tatsächlich spießig, wie meine Generation sich das nicht mal im Traum hätte vorstellen können. Und ja, auch: Diese Generation, das hört und liest man oft, redet viel übers Pudern, ­pudert aber kaum mehr. Und verlegt den Aufriss, der dann meistens keiner wird, ins Netz: die ­Tinder-Kinder.

Die Lungenseuche mit dem Biernamen „Corona“ hat wenig mit Aids gemeinsam, sie ist nicht mal annähend so tödlich. Es ist auch nicht mal ­sicher, dass sie durch Geschlechtsverkehr Verbreitung findet. Deswegen, so kann man in den Foren der schon vorher aufriss- und fickmüden Post-Aids-Generation lesen, hat diese auch keine übergroße Angst vor etwaiger Ansteckung. Was Covid-19 aber verursacht, ist ein weiterer Rückzug in Pornografie und Kopfkino, zudem auch einen merklich wachsenden Ekel vor allen Körperflüssigkeiten. Das sind keine guten Nachrichten für die letzten, verbliebenen Puderanten.

Diese letzten Puderanten, jene, die noch gewillt sind, das Pudern so oft wie möglich bis hin zum Suchtcharakter zu verwirklichen, finden sich nun viel mehr noch in den eher schlichten Milieus, in den Stadtrandsiedlungen, am Crystal-Meth-Land, wo dann das Verlangen nach Aufriss und Verkehr sehr gut mit den neuen Verschwörungstheorien zusammengeht: „Bill Gates will mir das Ficken verbieten.“

Das alles ist nur die Verlängerung der Fortsetzung der schon lange andauernden Spaltung der Gesellschaft. Hier die feinsinnigen Sex-Intellektuellen, die die trocken-geile Kunst der Stimulanz mehr und mehr dem feuchten, dreckigen Akt vorziehen, dort die Sex-Brachialen, die damit kämpfen müssen, kaum noch Orte zu finden, an denen sie den Aufriss zum Löcherstopfen einleiten können. Das macht Frust. Und dieser wird nicht abnehmen.

Foto: Getty Images

Gedanklich leben wir bereits in der Post-Corona-Zeit, die Zeit der „Lockerungen“ und der „neuen Normalität“. Man darf wieder raus, Boy meets Girl ist wieder drin, nur darf Boy das Girl nicht mehr im Lokal umarmen – selbst wenn das Paar verheiratet wäre, wäre das nicht „schicklich“, ganz wie im Fin de Siècle. Zudem: Die Orte des Aufriss, die Nachtbar, der Club, halten weiterhin geschlossen. Und die Betreiber der Orte, die offen halten, müssen drauf achten, dass der Alkoholkonsum vor 23 Uhr so gemessen bleibt, dass sich Boy und Girl zu Tisch nicht enthemmen. Beispiel: Das Nebeneinandersitzen im Lokal ist für zwei Personen verboten, die Nähe unerwünscht. Geht es noch spießiger?

Bei all der Freude über diverse Lockerungen, was bliebt da noch, wenn man ­landen will? Es bleibt das, wo man landen will, das eigene Zuhause. Wir treffen uns gleich bei dir oder bei mir. Ohne vorher groß wo rauszugehen. Einer kocht, der ­andere bringt Wein, man quatscht, hört Musik, kann sich sogar Drogen reinziehen, denn kein anderer schaut zu. Und dann geht’s zu Sache.

Das neue Sex-Biedermeier. Befreiter, öffentlich eingeleiteter Sex als eigentlich unschuldiges Opfer der nun folgenden Post-Corona-­Zeit, die auch das Sichere, das ­immer bieder ist, mit sich führen wird. Frühlingsgefühle im eigenen Garten. Der ständige Lebenspartner wird wieder en vogue.

Sie mögen das für übertrieben halten, doch ein Blick in die Foren von „ze:tt“ oder anderer Generationspostillen zeigt, dass diese Generation sich nicht nach jenem Sex sehnt, den ihre Eltern noch konsumieren durften. Das Lungenvirus Covid hat diese Haltung noch verstärkt, und es ist nicht abwegig, folgt man den ängstlichen Fragen dieser Generation, dass da auch eine Lust auf die Furcht herrscht. Und auch eine Lust, loslassen zu dürfen.
Denn was Covid sichtbar macht, ist, dass vieles der zuletzt gelebten Gesellschaftsform vielen Menschen als Zumutung erschien. Ein Zwang, mitzuhalten. In Sachen des Konsums. Und eben auch in Sachen des konsumiertem Sex. Zwar gehen die Zugriffe bei Tinder und anderen Dating-Plattformen wieder nach oben, doch wird da nun – mehr noch als früher – „nur geredet“, also nur über Befindlichkeiten geschrieben.

Foto: Tinder

Kann man also sagen, dass der freie Sex, den meine Generation, die halbe Generation davor und noch gering die Generation dahinter, die letzte Art Sex war, die sich frei nennen konnte, weil die Erregung aus der bedingungslosen Verwirklichung entstand, einer Verwirklichung jeder Art Geilheit, die – eine kurze historische Zeit lang – keine Bedrohung durch Pandemien kannte? Kann man sagen, dass die derzeit am stärksten sexualisierte Generation die Lungenseuche Covid gar begrüßt, weil diese sie aus einem Wettbewerb, aus einer Verpflichtung nimmt?

Denn was man bei „ze:tt“ und Konsorten aus dieser „Generation Praktikum“ herauslesen kann, ist der Überdruss an allem propagiert Konsumierbaren. Freilich trifft das eher die gebildeten Schichten, und freilich auch ist zügelloser Machismo-Sex seit einigen Jahren schon Lebensstil der teilenthirnten neuen Rechten, die Sangriabesäufnisse, das Golf-GTI-Treffen und den Rudelbums auf Meth im Hinterzimmer als ihre verbrieften Bürgerrechte ansehen – diese Leute werden nicht mehr, sie werden nur lauter.

Aufriss, Vorspiel und Sex nach Corona werden auch nach einer Schutzimpfung gegen Covid-19 keine feuchten Zeiten mehr erleben, zu tief verankert ist inzwischen die ­Virenfurcht, die auch in der Post-Aids-Zeit, als die ersten Behandlungen griffen, erst langsam abnahm und nie zu Gänze verschwand. Das Unbehagen, Sexualität als Rollenspiel und Wettbewerb wahrzunehmen, ist so groß wie nie; seine Geilheit macht man sich mehr und mehr, mitunter höchst kultiviert, selbst weg. Neue Zeit, neue Menschen, neue Sexualität. Vielleicht kommt jetzt erst, mit der Furcht, in der ­Ablehnung des veräußerten Mainstreams, die erste freie Sexualität überhaupt. Dank einer Lungen­seuche aus Wuhan in China.