Film & Serie

Geist, sieg!

Christopher Nolans neuestes Meisterwerk „Tenet“ ist eine Tour de Force für Körper und Geist, vor allem für letzteren. Ein spoilerfreier Erklärungsversuch zum Kinoereignis des Jahres.

Text: Markus Höller
Fotos: Warner Bros. Entertainment Inc.

Haben Sie es bemerkt? Die etwas nebulose Headline ist das, was man in der Sprachwissenschaft ein Palindrom nennt – also ein Wort oder Satz, der rückwärts gelesen genau denselben Text ergibt. Wie übrigens auch der Filmtitel „Tenet“. Und da sind wir eigentlich auch schon beim Kern der Sache.

Denn der aktuelle Film des Machers von u.a. der Batman-Trilogie, „Inception“ und „Interstellar“ bedient sich nicht nur im Titel, sondern im zentralen Plot dieses Phänomens, aber eben auf der Zeitachse. Auf gut deutsch: Zeitreisen in Filmen waren früher, jetzt geht es um Inversion – also Ereignisse, die parallel in jeweils umgekehrter Richtung stattfinden. Falls Ihnen jetzt schon der Schädel brummt, das war noch gar nichts! Aber gehen wir es locker an.

Christopher Nolan genießt heute als Filmemacher einen Sonderstatus. Dadurch, dass er seine Drehbücher praktisch immer selbst schreibt, produziert und Regie führt, muss man ihn trotz seiner exorbitanten Budgets und Umsätze eigentlich dem Autorenkino zuordnen. Ermöglicht wurde ihm das freilich erst durch den durchschlagenden Erfolg seiner Batman-Trilogie, deren kritische und finanzielle Erfolge ihm bei Stammstudio Warner Brothers quasi einen Persilschein für geradezu wahnwitzige Projekte ausstellte. Inklusive dem verbrieften Recht auf den Final Cut (eine absolute Seltenheit). Das war bei seinem Durchbruchswerk „Memento“ noch gar nicht abzusehen, aber dafür die heute typischen Nolan-Stilmittel: extrem verschachtelte Handlungsstränge, non-lineare Erzählweise und schier unglaubliche Plot-Twists. Im Laufe der Jahre und mit größeren Budgets kam dann seine andere große Leidenschaft zum Tragen: strikt analoges Filmen, am liebsten in IMAX und 70mm, sowie die Vermeidung von CGI zugunsten von praktischen Effekten wo es nur geht. Eine „Tenet“-Anekdote dazu: es gibt im Film eine Szene mit einer crashenden Boeing 747. Nach einigem Abwägen der Kosten und Qualität einer computergenerierten Szene entschied sich Nolan dann doch für den Kauf eines ausrangierten Jumbos und folglich einem Dreh mit dem echten Brummer. Das in Kombination mit echtem Zelluloid, da kommt kein Pixelpusher mit.

Sowas zahlt sich eben aus, vor allem wenn man Tenet in einem IMAX-Saal oder zumindest auf der größtmöglichen Leinwand genießt. Schon bei der intensiven Eröffnungssequenz bleibt einem die Spucke weg, und im Verlauf der nächsten 2 ½ Stunden wechseln sich ruhige Szenen, die nach und nach den komplexen Handlungsstrang aufdröseln, mit umwerfenden Actionsequenzen ab. Wer’s kennt: Denke „Memento“ gekreuzt mit „Inception“ mit einer Prise „The Prestige“. And then some. Nicht zu vergessen über all dem allerhöchsten erzählerischen und technischen Niveau sind dabei die exzellenten Schauspieler. Protagonist John David Washington, seit „BlacKkKlansman“ in Hollywood heiß gehandelt, trägt den Lead mit famoser Präsenz. Sein Co-Star Robert Pattinson beweist erneut (wie oft eigentlich noch, bevor man das nicht mehr schreiben muss?), dass die kitschigen Vampirfilme bestenfalls als zu vergessendes Karrieresprungbrett zu betrachten sind; und Kenneth Branagh als Antagonist bedroht Gegenspieler (und Zuseher) in einer beängstigenden Intensität. Und: die geradezu außerirdisch anmutige und gleichzeitig taffe Präsenz der über 1.90 großen Australierin Elizabeth Debicki ist ein Schauspiel für sich und weit mehr als nur die sprichwörtliche Damsel in Distress.

Zurück zur Technik. Die Kameraarbeit von Hoyte van Hoytema, Partner von Nolan hinter der Linse seit „Interstellar“ und „Dunkirk“, ist schwindelerregend und ergibt im Zusammenwirken mit dem Score von Ludwig Göransson ein schon körperlich spürbares, intensives Kinoerlebnis, wie ich es das letzte Mal bei „Mad Max: Fury Road“ erlebt habe. Und das nicht nur in epischen Feuergefechten, sondern auch im Faustkampf oder bei einer der aufregendsten Autoverfolgungen aller Zeiten. Dazu kommt den ganzen Film über die ausgesprochen ausgefuchste Manipulation von Zeit, wogegen frühere Ansätze von Nolan nur wie harmloses Kokettieren wirken. Ein Kinoerlebnis, das einen physisch und psychisch vollkommen in Anspruch nimmt und noch tagelang nachwirkt; diskutiert, gedeutet und spekuliert wird vermutlich noch viele Jahre. Ach ja, die Handlung… Ich gebe zu, nach dem ersten Ansehen nicht einfach zu erklären. Ich ringe nach Worten, da muss ein weiteres Screening her. Jedenfalls: 3. Weltkrieg ist Quatsch, hier geht es um weit größere Zusammenhänge. Schwierig.

Abschließend noch meine Voraussage für die 2021 erst im April stattfindenden Oscars: mindestens acht Nominierungen und sichere sechs Goldmännchen fix.


Tenet, Produzenten: Emma Thomas, Christopher Nolan, Regie: Christopher Nolan, Hauptdarsteller: John David Washington, Robert Pattinson, Elizabeth Debicki, Kenneth Branagh, Verleih: Warner Brothers, Start: 26. 8. 2020