AKUT

Mehr Chuzpe

Dirk Stermann

Es gibt die Geschichte von dem Mann, der Vater und Mutter erschlägt und dann den Richter um mildernde Umstände bittet, weil er ja Vollwaise ist. Das ist Chuzpe. Das Wort kommt aus dem Jiddischen und meint eine zielgerichtete, intelligente Unverschämtheit, verbunden mit charmanter ­Penetranz und unwiderstehlicher Dreistigkeit.

Finanzminister Blümel, die Tiroler Wirtschaftslobby, der Mann, der die Akten geshreddert hat. ­Österreich ist voll mit Chuzpe. Grasser schmiert sich morgens Chuzpe ins Haar.

Ich benutze das Wort gern, stelle es aber auch in Zusammenhang mit MUT. Vorzugeben, etwas zu sein oder zu können, ohne dass es stimmt und ohne böse Absicht. Eher ein Spiel mit der Wirklichkeit. Zielgerichtet, aber harmlos. Ich stand auch noch nie vor Gericht oder hausdurchsuchenden Beamten gegenüber. Meine Chuzpe ist legal und fordert auch keine Opfer. Ich habe keine Fremdenzimmer, die ich vermiete während eines Lockdowns. Ich bin ein Vertreter der ungefährlichen Chuzpe.

Wann kam ich das erste Mal mit Chuzpe in Berührung? Ich glaube, es war in meinem letzten Schuljahr. Kurz vor der Matura. Ein Freund von mir, Ravindranath, war Halbinder und sah aus wie Mogli aus dem Dschungelbuch. Ein schwuler Filmemacher aus meiner Heimatstadt Düsseldorf suchte seine Nähe, und damit war ich als Ravindranaths Freund auch in seiner Nähe. Der Filmemacher hatte ein Filmprojekt. Auf einer Serviette hatte der Hollywoodstar Peter Fonda unterschrieben, dass er die Hauptrolle spielen würde. Ich war 18 Jahre alt und wusste nicht, dass eine unleserliche, verschmierte Unterschrift auf einer schmutzigen Serviette vielleicht nicht die klassische Form eines Vertrages ist. Wow, sagte ich, obwohl ich Peter Fonda nicht kannte und den Namen auch nicht entziffern konnte auf der senffleckigen Serviette.

Aus unerfindlichen Gründen bekam der Filmemacher keine Filmförderung für seinen Film, und so bekamen wir den Auftrag, Geldgeber zu suchen. Der schöne Ravindranath und ich kannten aber nur unsere Mitschüler, von denen einige zwar mehr Taschengeld bekamen als wir, aber so vermögend, dass sie einen Kinofilm für mehrere Millionen produzieren könnten, waren sie dann doch nicht.

Wir überlegten, wer wirklich reich genug sein könnte. Das Glück wollte es, dass der Sänger unserer Schul-Punkband Crooks eine Freundin hatte, Danuta, die sehr hübsch war. Auf einer Schulparty, wo Crooks auftraten, herrschte plötzlich große Aufregung. „Einer von Kraftwerk ist da“, sagte Ravindranath. „Der ist in Danuta verknallt.“

Der schwarz gekleidete, ältere Superstar stand in einer Ecke und flirtete mit der schönen Danuta, während der Punksänger von der Bühne aus wütend schaute und brüllte. Irgendwann zog der ­Weltstar mit Danuta ab. Der Crooks-Sänger sprang von der Bühne und wollte sich mit dem Kraftwerkler prügeln, aber der Star hatte muskulöse Freunde ­dabei, und unser Schulstar lag im Gatsch.

Wir riefen den Filmemacher an und erzählten ihm, dass wir wahrscheinlich Geldgeber wüssten. Der Filmemacher zeigte sich erfreut. Von Freunden bekamen wir die ­Information, wo das Tonstudio von Kraftwerk war. Wir fuhren mit der Straßenbahn hin. Die Tür stand offen. Es war ein unglaublich großes Tonstudio, obwohl ich keine Vergleichsgrößen von Tonstudios kannte, weil ich noch nie zuvor ein Tonstudio von innen gesehen hatte. Die ganze Band stand dort. Sie nahmen gerade ein Album auf. Weltstars. Das Album würde man auf der ganzen Welt hören. Alle waren schwarz gekleidet und sahen uns an, als wären wir Pizza­boten von nie bestellten Pizzas.

„Hi“, sagten wir selbstbewusst. Wir wurden nicht zurückgegrüßt. „Ein Freund von uns macht einen großen Kinofilm. Mit Peter Fonda. Und er braucht noch zwei Millionen Mark.“ Unverständlicherweise zückten sie nicht ihre prallen Geldbörsen, sondern nickten einem Bodybuilder zu, der uns aus dem Tonstudio schob. Von einem schwarzen Sofa aus winkte uns Danuta zu. Wir riefen enttäuscht den Filmemacher an.

„Spießer“, sagte er. Wir nickten. Das neue Album von Kraftwerk boykottierten wir. Wochen später kam die nächste Hiobs­botschaft. Die Serviette war ­verschwunden.


Dirk Stermann
kolumniert seit Jahren im WIENER, heißt wöchentlich Österreich ­willkommen und ist erfolgreicher Autor.