AKUT

Haare im Hedonisten-Ohr

Dirk Stermann

Ein schwerer Verkehrsunfall. Ein Passant geht zu einem Schwerverletzten und sagt: „Ja ja, schon gut, stellen sie sich einmal vor, es hätte mich erwischt!“ Vielleicht hilft diese Bemerkung dem Röchelnden, weil er sich denkt: „So ein Ich-Bezogenes Arschloch, da vergess ich gleich meine furchtbaren Schmerzen und reg mich auf über diesen dämlichen Mistkerl!“ Wahrscheinlicher ist, dass ein Schwerverletzter dem hedo­nistischen Passanten in dieser Situation nicht wirklich zuhört, sondern zu sehr beschäftigt ist mit seinen abgerissenen Armen, Beinen, Ohren und was man sich sonst noch so abreißen kann bei einem schweren Unfall. Der Passant wird bei den abgerissenen Ohren an seine eigenen denken und sich fragen, wann er das letzte Mal die Haare aus den ­Ohren geschnitten hat. Ein Pro­blem, das ihm näher ist als das zerfetzte Fremdohr. Ob dem Schwerverletzten die Haare in den Ohren des Passanten auf­gefallen sind? Der Passant ist vielleicht eitel genug, sich das zu fragen. Der Schwerzerfetzte wird aller Voraussicht nach nicht in die Ohren des Passanten geschaut haben. Es gibt Momente, ds ist man zu sehr bei sich, zum Beispiel während eines schweren Unfalls, in dem man selber das Opfer ist. Ist es hedonistisch von dem Verletzten, nicht in die Passantenohren zu schauen?

Während des Tsunamis war ich auf Sri Lanka und wurde mit den anderen Touristen evakuiert. Wir wurden ins Landesinnere gebracht und verbrachten zwei Nächte im Freien auf der Wiese einer Kirche. Auf der Straße, die an der Kirche vorbeiführte, sah man Tausende von Flüchtlingen, die gerade alles verloren hatten, was eh nicht viel gewesen war. Ein Mann kam zu mir und sagte: „Hello, I lost my house, I lost my boat, can I help you?“ Ich war verdutzt. Der Singhalese hatte alles verloren und bot mir seine Hilfe an? Ein britischer Tourist, der die Nacht in der Kirche unter dem Gekreuzigten verbracht hatte, wünschte sich von dem ­Fischer Sneakers, „because I lost my sneakers. Beautiful sneakers. I love my sneakers, It is horrible that I lost them.“ Der Einheimische, der nichts mehr besaß als sein Leben nickte mitfühlend und machte sich auf die Suche nach Sneakers, die dem Engländer vielleicht gefallen könnten, um des Briten Schmerz zu lindern.

Der Engländer wähnte sich scheinbar noch immer in der Rolle des Vertreters des British Empire. Sri Lanka war britische Kolonie gewesen, deshalb war der Fischer ein Diener, der inmitten einer Naturkatastrophe für den Massa Sneakers finden muss.

Ich sah mir die Füße des Engländers an, so wie der eingangs erwähnte Schwerverletzte sich wahrscheinlich nicht die Ohrenhaare des Passanten anschauen würde. Die Nietnägel des Briten waren eingewachsen. Ich sah, dass sein Nagelbett entzündet war. Sehr ungepflegte Füße hatte der Brite. Ich wünschte mir jetzt auch irgendwelche Schuhe an seinen Fuß, damit ich die stinkenden Krätzfüße nicht mehr anstarren müsste.

Seine Zehennägel erinnerten mich an Fotografien von indischen Fakiren, die aus religiösen Gründen die Nägel wild wuchern lassen, sodass sie meterlang werden und sich zu merkwürdigen Horngebilden verdrehen. Aber der Brite war kein Fakir. Eher ein Fucker.

„Suchen sie sich ihre Scheißsneakers doch selber“, sagte ich auf Deutsch.

Er verstand kein Wort, spürte aber meine Haltung und sagte: „Fuck you.“ Ich sah jetzt auch, dass seine Ohren behaarter waren als mancher Männerkopf. Vielleicht hatte er sich seit dem Ende des Kolonialismus nicht mehr körpergepflegt. Das hatten wahrscheinlich indische Diener gemacht, bis Mahatma Gandhi mit seinen friedlichen Mitteln dafür gesorgt hatte, dass auch Leute wie dieser englische ­Tourist selber zuständig sind. Da kommt kein Unterworfener mehr und reinigt die Öhrchen und schneidet die Nägel an den ­Füßchen und Fingerchen.
Am nächsten Morgen stand ein Paket unter dem Gekreuzigten. In dem Paket waren nagelneue Sneakers. Der Brite tat, als wäre es ganz normal. Er zog die Schuhe an, sie passten, der Fischer strahlte, und der Brite sagte: „I don’t like them. Bring me another pair.“

„No“, sagte der Fischer. Er entschuldigte sich, keine Zeit für die erneute Suche nach neuen Sneakers zu haben, weil er seine Familie begraben müsse.


Dirk Stermann
kolumniert seit ­Jahren im WIENER, heißt wöchentlich Österreich ­willkommen und ist erfolgreicher Autor.