Interview
Lojze Wieser: Ein schräger Vogel mit Geschmack
Seit mehr als 40 Jahren ist der slowenischsprachige österreichische Buchverleger Lojze Wieser als „Wortwanderer“ unterwegs. Dafür hat er nicht nur den Professorentitel und etliche Auszeichnungen erhalten – sondern auch Morddrohungen und eine Briefbombe.
Text: Georg Biron / Fotos: Lukas Beck
Manchmal erscheint mir Lojze Wieser nachts im Traum als indianischer Medizinmann, der Bücher und Ideen mit sich trägt, ein schräger Vogel in einem zerzausten Federkleid, ein verwegener Kämpfer auf der Suche nach Geschichten, den Kopf in Schräglage, ja, aber das Herz am rechten Fleck. Und das Glück nur einen Flügelschlag entfernt.
„Wie die Bücher, so begleiten mich auch die Geschichten, die mit ihnen zusammenhängen, die mich zu ihnen gebracht haben und die mich in eine Welt blicken lassen, deren Universum sich nur langsam öffnet“, sagt Lojze Wieser, für mich der schillerndste Verleger des literarischen Alpenreservats. „Staunend höre ich die Geschichten, die mir die Autorinnen und Autoren erzählen und die einen eigenen Kosmos bilden.“
Seit 35 Jahren schiebt er jetzt schon Bücher ins Auditorium und platziert sie so gut es geht in den Schaufenstern von Buchhandlungen, wie große Holzscheite in einen Kamin, viele davon sind wichtige Übersetzungen aus den Sprachen und Kulturen des europäischen Südens und Ostens.
Morddrohungen und Briefbombe
Er tut es mit der Besessenheit eines Attentäters. Längst sind „Wieser“ und „Drava“ bekannte Verlagsnamen im deutschen Sprachraum. Mit Büchern gegen Ignoranz und Vorurteil will Lojze Wieser die Menschen in unbekannte Kulturen reisen lassen und setzt dabei auf die Wirkung seiner vielschichtigen Verlagsprogramme: „In Europa gibt es circa 200 Sprachen und Kulturen, dazu kommen noch etwa 200 Migrantensprachen, die einen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung haben. Da gibt es noch sehr vieles zu entdecken.“
Der Dank für solche Expeditionen ins Niemandsland war kein Gewitter des Beifalls, sondern Morddrohungen und eine Briefbombe von Franz Fuchs, die zum Glück rechtzeitig entdeckt wurde und entschärft werden konnte. Und Geldsorgen, weil sein privates Erbe veräußert werden musste – sowie Lebensversicherungen, ein altes Bauernhaus „und alles, was nicht niet- und nagelfest war“.
Auf gefährlichen Pfaden kennt sich Lojze Wieser mittlerweile aus, er ist zwar nicht ganz in der Spur, aber immer eine einzigartige und interessante Persönlichkeit, die nie langweilig wird: „Es ist ja nicht so, dass auf einmal der helle Blitz kommt, und dann weißt du, wohin du gehen musst. Da kommt eher der dumpfe Knall, weil man oft gegen die Wand rennt und nicht weiß, wie man weiter tun soll.“
Bücher in der Speisekammer
Die Leidenschaft für gedruckte Worte hat ihn schon als Kind gepackt, denn im Haus in der Kärntner 250-Seelen-Gemeinde Tschachoritsch/Cˇ ahorcˇ e, in der er aufgewachsen ist, gab es überall Bücher: „Im Schlafzimmer, in der Küche, am Dachboden, im Vorraum und so weiter. Auch in der Bettzeuglade waren Bücher gestapelt. Sogar in der Selchkammer drinnen, wo das Fleisch war, gab es mit Leder bezogene Holzkisten, in denen die Großmutter ihre von Mäusen angenagten Bücher gehabt hat. Das war ein Abenteuer, zum Teil nicht ganz jugendfrei, wenn ich an die ersten erotischen Bilder denke, die man als Zehn- oder Elfjähriger gern angeschaut und mit roten Ohren in diese Geschichten hinein gespechtelt hat.“ Am liebsten aber hat Lojze schon früh statt der Karl-May-Phantasien die Romane von Tolstoi, Dostojewski und Tschechow „und weiß der Teufel was noch alles“ gelesen.
Nach einer gescheiterten einmonatigen Koch-Lehre wird er Buchhändler in Klagenfurt/Celovec und mit 20 Druckereibesitzer in Wien. Mit 27 geht er zurück nach Kärnten und übernimmt den Drava-Verlag und die Buchhandlung Naša knjiga, wo er 1985 ausscheidet. Seit 1987 gibt es den Wieser-Verlag. 1990 erhält er den Ersten Österreichischen Staatspreis für Verleger.
Mittlerweile hat er – bei Wieser und Drava, den er 2016 wieder übernommen hat – mehr als 2.000 Bücher herausgebracht, davon sind zahlreiche Übersetzungen. In den Monographien, der Kultreihe „Europa erlesen“, der renommierten „Edition Zwei“ sowie in den Taschenbüchern, der eigenen „Slowenischen Bibliothek“ etc. „begibt sich die Leserschaft wahrlich auf eine Entdeckungsreise“.
Und immer wird das auch ein bisschen als Provokation verstanden. Früher sind die schrägen Vögel lange Zeit sehr bewundert worden, man hat ihren Liedern zugehört, ihre Bücher gelesen, ihre Kunstwerke bestaunt, man hat sich angehört, was sie zu erzählen hatten. Weil schräge Vögel nicht nur auf dem Boden rumwatscheln, sondern fliegen können und die Welt von oben sehen, aus der schrägen Vogelperspektive eben.
Und manchmal sind sie sogar im Sturzflug unterwegs und riskieren einen Tauchgang unter Wasser, bevor sie wieder am Ufer stehen, sich die Tropfen aus den Federn schütteln und bei einem Drink an der Bar überaus bildhaft erzählen, was sie gesehen haben … dort oben in der Luft und unten im Wasser. Aber mittlerweile sind die Zeiten für unangepasste schräge Vögel schwer geworden. Die Öffentlichkeit will immer weniger von ihnen wissen, sie ist mit ihrer engen Sichtweise beschäftigt, sodass sie die schrägen Vögel fast nur noch als Staatsfeinde begreifen kann, als verdächtige Unruhestifter, als Gefahr für die vermeintliche Geborgenheit in ihrer schönen Biedermeierei.
Schwieriges Terrain
„Die strukturellen Probleme der Buchbranche“, erzählt Lojze Wieser, „sind nicht außer Acht zu lassen. Das Buchhandlungssterben, der schwindende Verkauf, das zunehmende Desinteresse an wahrhaftig guter Literatur und die veränderte Wahrnehmung von Büchern in den Medien sind heute meine Wegbegleiter.“
Der Preis für eine Tonne Papier hat sich in diesem Jahr um bis zu 30 Prozent erhöht, und die nächste Preissteigerung ist bereits angekündigt.
Die Verlagsförderung ist drei Jahrzehnte alt. In dieser Zeit hat es eine einmalige Inflationsanpassung und im Jahr 2020 eine Erhöhung von zwei Millionen auf 2,7 Millionen Euro für alle literarischen Verlage in Österreich gegeben.
„Es ist nicht leicht, unter diesen verschärften Bedingungen zu überleben, wiewohl wir alles Erdenkliche getan haben, um mit der Literatur – unter Corona-Bedingungen mit Lock Downs, geschlossenen Buchhandlungen und erdrückender Trash-Literatur – dagegen zu halten“, erklärt der Verleger, der mit dem romantisch-tragischen Liebesroman „Kukum“ des kanadischen Innu-Autors Michel Jean auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2021 einen international beachteten Erfolg landen konnte.
Gespannt ist Wieser jetzt schon auf die neue Buchsaison, die im März 2022 mit der Präsentation der Neuerscheinungen des Frühjahres als wichtiger Impulsgeber für den deutschsprachigen Büchermarkt startet. Mit 25 Buchtiteln sind der Wieser Verlag und der Drava Verlag dabei vertreten: „Wie das jetzt mit Omikron sein wird, ist aber mehr als ungewiss.“
Die Geschmacksverwandtschaften
In einem meiner Träume ist mir der indianische Medizinmann im zerzausten Federkleid zwischen Zypressen, Rosmarin und Lorbeer am Meer begegnet. Slowenische Hafenromantik. Garniert mit schmackhaften Geschichten, hat mir Lojze Wieser mit einem glücklichen Gesicht einen in den Böen der Bora getrockneten Schinken, der nach Wacholder duftet, und geräucherten Speck serviert. Und Radicchio und Paradeiser, mit Olivenöl verfeinert. Dazu haben wir bis tief hinein in die Traum-Nacht den fast schwarzen Teran-Wein getrunken, den die einheimischen Bauern als hilfreiche Medizin gegen alle möglichen Wehwehchen verabreichen. Und als Nachtisch hat es kühle Kirschen und Pfirsiche gegeben, würzigen Käse, Wildspargel und danach einen herzhaften Weinbrand.
„Kochen ist wie Lesen und Lesen ist wie Kochen! Literatur ist Leben! Essen ist Kultur! Beides ist Medizin!“, davon ist der erklärte Genießer überzeugt.
Und er erzählt: „Ich bin unter Hausfrauen, Arbeitern, Bauern, Putzfrauen, Hilfsarbeitern, Handwerkern, Holzknechten, Schindelmachern, Pensionistinnen, Kriegsinvaliden und Frühpensionisten aufgewachsen, die sich mit der einfachen Kost ernährten. Da habe ich den Ursprung des Geschmacks erfahren und gelernt, wie unsere Mütter und Großmütter aus allem von Feld und Wiese, vom Garten und Keller, vom Sauschlachten und aus der Vorratskammer wohlschmeckende Speisen komponierten. Ihre Kreativität und Phantasie war grenzenlos und Inspiration für jede spätere Lebenslage.“
Seine Notizen zu den Anfängen des Geschmacks in der Kindheit hat er für das Buch „Kochen unter anderen Sternen. Geschichten von entlegenen Speisen“ zusammengefasst und sich auf die Spuren der einfachen Kost oder, wie es auf Italienisch so viel besser klingt, der ‚cucina povera‘ begeben.
Speisen sind wie Gedichte
Wie in einem Gedicht ist es auch bei den Speisen: In ihnen verbirgt sich mehr als bloß die Vermengung von Zutaten, geht es doch um die Harmonie zwischen Speise und Mensch auf dem Teller, um Eins zu werden im Wohlbefinden für Körper und Seele.
„Wir haben eine Epoche hinter uns, die uns zu erklären versuchte, dass es ‚nationale Speisen‘ gäbe“, weiß Lojze Wieser. „Daraus haben sich unter ideologischen und politischen Einflüssen Missverständnisse ergeben. Die eigene kulinarische regionale Erfahrung wurde als einzigartig bezeichnet und über die benachbarte Region gehoben. Alles, was sich politisch, religiös, gesellschaftlich abspielt, hat im Grunde genommen auch seinen Niederschlag im Suppentopf. Und dieser ist in gewisser Weise ein Biotop.“
Im ORF und auf 3sat präsentiert er seit 2013 die international ausgezeichnete Reihe „Der Geschmack Europas“, für die er auch die Texte schreibt. Dabei vermengen sich kulinarische Genüsse der Regionen mit der jeweiligen Poesie und Kulturgeschichte. Wiesers Bücher zur ORF-Reihe „Geschmack Europas“ und „Geschmackshochzeit“ zu den „Tagen der Alpen-Adriatischen Küche“ wurden mit dem „Gourmand World Cookbook Award“ ausgezeichnet.
Sieben Bereiche gibt es, die ihm im Leben ganz besonders wichtig sind: „Lieben, Lesen, Schreiben, Kochen, Essen, Trinken und Reisen. Das genügt!“
Ja! Und das ist schön und gut. Und genau deshalb brauchen wir sie, die schrägen Vögel … damit wir das Genießen nicht verlernen … und das Herz am rechten Fleck haben.
So wie Lojze Wieser.
Peter Handke über Lojze Wieser
„Seine Stärke, unübertrefflich im Kärnten-Problem: das viele kleine Wissen, das aber nie klein-klein bleibt, sondern das Große sehen lässt. Das gilt für das Schindel-Herstellen ebenso wie für die große traurige Geschichte (Historie). Und es gilt auch für seine Verlagsarbeit, selbst wenn er die hauptsächlich (?) aus dem fahrenden Auto bestreitet. Seine Gefahr: dass seine Gesten, in der Sprache, zeitweise Plakate zu werden in Gefahr sind. Aber er ist da leicht zu stoppen: ein Stürmer wie er braucht halt auch einen Vorstopper. Und letzten Endes ist er der Spielführer, nichts für die Ersatzbank. Und in meinen Augen seine größte Stärke (von der er zum Glück selber wenig weiß): eine gewisse oder eben ungewisse jähe Traurigkeit, über das eigene slowenische Volk, über sich selber. Stärke und Fruchtbarkeit: denn diese Traurigkeit oder eher Grundtrauer ist, scheint mir, sein lebenslanger Anstoß, und seine zweite, verborgene Energie, zum Leben, Verlegen der Bücher und zuletzt und zuerst zum (Auf-) Schreiben.“
Infos zu den Verlagsprogrammen:
www.drava.at
www.wieser-verlag.com