AKUT

Kann denn Treue geil sein?

Christian Jandrisits

Treue muss man nicht schwören.
Monogamie geht auch ­unfreiwillig. Und sie ist okay, wenn man weiß, wie man fremdgeht und ­dennoch treu bleibt.

Monogamie 2022/Text: Manfred Sax FOTOS: Istock

Zunächst die Substanz. Der Triebstoff sozusagen. Obwohl es eigentlich ein Antitriebstoff ist, so eine Art Antifremdgehtriebstoff. Oxytocin. Das Wort selbst kommt schon lange nicht mehr fremd daher, es war eine gar nicht seltene Statusmeldung am Netzwerk, in den Jahren vor der Pandemie war sie nicht selten. Da hieß es „Oxytocin!“ und sonst nichts, und du wusstest, dieser Frau (es war immer eine Sie) ist etwas Angenehmes widerfahren. Sie fühlt sich kuschelig und vertrauensselig und spürt Zuneigung und so weiter. Du wusstest, das war kein banaler Orgasmus, es war ein Rufzeichenorgasmus. Es hat Gründe, warum Oxytocin(!), das Frauen ihre Krallen einziehen und Kompliziertheiten vergessen lässt, auch Kuschel- oder Treuehormon genannt wird.

Treue und Oxytocin

Eine weibliche Single weiß heute über Oxytocin Bescheid. Nur sieht sie die Sache herber, erzählt mir eine bewusste weibliche Single (BWS), das ist eine, deren erste Frage bei jedem Thema „wo bin da ich?“ ist, auch wenn es nicht um sie geht. Das Ich hat Priorität, also ihre persönliche Befindlichkeit, ihre Karriere, ihre Unabhängigkeit, ihr mangelnder Bock auf Kompromisse, ihre Wechseljahre, ihre Was-auch-immers. 

Anyway, die BWS hatte also Sex. Der Mann dazu war einer ohne nennenswerte Eigenschaften. Es war so eine Art Sex, nach dem Frau gern sofort aus dem Bett steigt. Kein schlechter Sex, sagt sie, aber keineswegs unvergesslich. Und so will sie es generell. Denn mit gutem Sex habe sie ein ärgerliches Problem: „Scheiß Oxytocin!“ Der Neurotransmitter Oxytocin ist Scheiße, weil da die ganze sorgfältig aufgebaute, powerweibliche Front mit einem Squirt den Bach runtergehen kann. Anstatt zappelig energetisch ist sie plötzlich verführerisch träge und schmusig drauf, und findet den Lover womöglich auch noch interessant. Oh fuck. Guter Sex ist immer so schrecklich „wir“, da kann das Ich ganz schön auf der Strecke bleiben.

„Das Neugehirn kann den Weg zur aktiven Gewissenlosigkeit des Schwanzes ziemlich blockieren. Diesbezüglich ist der Mann seit Längerem in der Krise.“

Zwischensumme:

Wirklich guter Sex ist wirklich geil. Und manchmal ist lediglich nicht schlechter Sex die geilere Alternative. Ist das nicht ein Widerspruch? Nein, ist es nicht. Es ist nur der Aufeinanderprall zweier Gehirne in einem Kopf: Urgehirn versus Neugehirn (Neocortex). Zwischen diesen beiden Nachbarn verliert sich viel in der Übersetzung. (Es ist jetzt zu hoffen, dass diesen Schrieb hier kein Gehirnspezialist liest, dann bin ich nämlich argumentativ im Arsch). Das Urgehirn wird auch Reptiliengehirn genannt; aus Gründen. Es hat weder Moral noch Bewusstsein, sein Wissen ist auf einem Niveau jenseits unserer logischen Denkprozesse angesiedelt. Es will nur nicht sterben. Nur Fressen und Vermehren, also den Genpool auf die nächste Generation verfrachten. Männlich gesehen: Ein Schwanz hat kein Gewissen. Er reagiert nur auf hormonellen Input. Das hatte evolutionär gesehen seinen Sinn, sonst wären wir heute nicht hier. Aber unser Problem damit ist, dass seit Existenz des Phänomens Leben auch eine satte Dosis Zivilisation und Fortschritt passierten. Der Schwanz hat nun auch einen logisch denkenden Träger. Der „Sapiens“, der dies schaffte, entwickelte dazu und verwendet seither das Neugehirn, das unseren Lifestyle befruchtet und formt. Aber unser Sex wird noch immer weitgehend vom Urgehirn verbrochen. Und es gibt eine mächtige Kluft zwischen diesen beiden Gehirnen. Deswegen grübeln wir heute darüber nach, wie wir den Mars zivilisieren können, aber gebumst wird noch immer wie anno Menschenaffe. Das ging so leidlich, solange Sex bloß für Nachwuchs sorgte. Nur ist er heute auch Lifestyle. Er bedarf eines gewissen kulturellen Niveaus, das der gewissenlose Schwanz allein nicht bieten kann. Und er unterliegt Schwankungen. Manchmal sind die Zeiten sexpositiv, andermal wieder restriktiv. Heutzutage weitgehend letzteres. 

Treue, Oxytocin und die Männer

Wie steht es nun eigentlich mit dem Mann? Hat er Probleme mit Oxytocin und gutem Sex? Also nein, für viele Männer ist heute jeder Sex guter Sex. Hauptsache, er hat die Gelegenheit. Tatsächlich ist der Mann weniger für Oxytocin-bedingte Zustände anfällig. Es ist eine Frage des Treibstoffs. Die Evolution wollte es, dass Männer vorwiegend mit Testosteron betrieben werden (Jäger), Frauen mit Östrogenen (Kinder). Der Mann hat im Schnitt zwanzigmal so viel Testosteron auf Lager als die Frau. Und erwiesen ist, dass Testosteron die Bildung von Oxytocin unterdrückt, während Östrogene die Abgabe von Oxytocin stimulieren. Das heißt nicht, dass der Mann Oxytocin-immun ist. Innig zelebrierter Sex verpasst auch ihm eine spürbare Dosis; er kann Treue. Erwähnenswert diesbezüglich, dass Drogen wie Ecstasy recht Oxytocin-aktiv unterwegs sind, das macht ihre User so dämlich loved-up.

Nur ist der Mann auch von gesellschaftlichen Umständen abhängig, vom Zeitgeist, vom aktuellen Krieg der Geschlechter und so weiter. Das Neugehirn kann den Weg zur aktiven Gewissenlosigkeit des Schwanzes ziemlich blockieren. Diesbezüglich ist der Mann seit Längerem in der Krise. Man nehme die Generation der Männer in ihren Zwanzigern und Dreißigern – vom Biodesign her die Creme de la Lendenkraft. Dazu gibt es, klar, etliche Studien. Nach einer Umfrage unter 2000 willigen Exemplaren etwa fanden Forscher, dass die Hälfte davon bestenfalls halbsteif unterwegs ist. Warum? Weitgehend Leistungsangst, sagt der Doktor. Die Chance auf ein freudiges horizontales Ereignis macht auch nervös: Weiß das Urgehirn, was nun Sache sein muss? Triggern die Geschlechtsorgane die notwendige Dosis Testosteron, um den Botenstoff Stickstoffmonoxid wachzurütteln, den die Schwellkörper brauchen? Antwort: zu 50% nein. Und das Neugehirn kann nur eventuelle Gründe nachschießen: zuviel Stress (45%); Alkohol (32%); Depression (25%). Anders gesagt: Die Männer in den sexuell besten Jahren sind in etwa so fit wie der 75-jährige Michael Douglas. Der lotste seinen Schwarm in der netten Netflix-Serie „The Kominsky Method“ mit den Worten „keine Sorge, es besteht eine 50%-ige Chance, dass nichts passiert“ ins Bett. Aber gut, er hat eben Erfahrung. Er wuchs in den sexpositiven Jahrzehnten auf, als Sex war, was heute das Handy ist. Da lernt man was. Was selbstverständlich auch für Männer gilt, die in Beziehungen stecken. Somit zur nächsten Frage:

„Das Urgehirn wird auch Reptiliengehirn genannt; aus Gründen. Es hat weder Moral noch Bewusstsein, sein Wissen ist auf einem Niveau jenseits unserer logischen Denkprozesse angesiedelt. Es will nur nicht sterben, fressen und sich vermehren. Männlich gesehen: Ein Schwanz hat kein Gewissen.“

Wie geht eigentlich der Beziehungsmann – der langjährige Boyfriend, der Gatte, der Vater – mit Treue um? Eine knifflige Frage. An einem Ende der rationale Existenzialist mit dem ­Ansatz: „Ich würde meine Gattin nie betrügen; Aus dem simplen Grund, weil ich mein Haus zu sehr liebe.“ Am anderen Ende: „Wissen Sie, die Tasmanier sind nie fremdgegangen, aber heute sind sie ausgestorben.“ (1) Alles neugehirnlich vernünftige Ansätze. Nur sind da auch halt die Triebe, die sich einerseits um Vernunft nicht scheren, andererseits haben dieselben auch ihre Saison. Bei der ersten Liebe ist Treue kein Thema, du willst ja nur sie, du bist total verknallt und heilfroh, dass alles so geklappt hat und dein Ding bereits beim dritten Versuch endlich reinging, das ist ein Triumph mit relativer Langzeitwirkung. Und viel später, bei der meno- bzw. andropausalen Zweisamkeit, ist schon „spooning“ (Löffelstellung), das ganzkörperliche Anschmiegen mit der Nase an ihren vertraut duftenden Hals ausgesprochen großartiger Sex; an Fremdgang nicht zu denken, welcher Oldie will sich das antun, abgesehen von Johannistrieblern? Aber dazwischen gibt es Phasen. 

Ein derartiges Arschloch hat also die Frau objektiviert, nicht weniger. Er hat ihr das Persönliche genommen. Das, was sie von anderen Frauen unterscheidet. Hat er wirklich?

Warum sind lange Beziehungen so beschissen, fragte mich diesbezüglich eine Kollegin. Es beginnt nett, Sex akzeptabel, es wird eine Beziehung, vielleicht sogar Liebe. Aber nach spätestens drei Jahren hat es sich, meinte sie, vor allem wenn nachwuchsmäßig nichts läuft. Dann trocknet der hormonelle Vorschuss, und ohne Testosteron kein Bock. Der Vorschuss stellt sich erst bei der nächsten Loverin wieder ein. Und wie geht das, wenn du einerseits nicht dein Haus verlieren willst (Neugehirn), andererseits aber endlich wieder mal geil ficken? 

Treue versus Fremdgehen

Frage: Kannst du fremdgehen und dennoch treu bleiben? Ja, das geht. Es hat damit zu tun, wie der Mann in seiner horizontalen ­Geschichte unterwegs war. Man kann, sexuell gesehen, „zweigleisig“ unterwegs sein. Mann kann die Loverin lieben, gleichzeitig aber auch den Sex lieben. In zweiterem Fall verlässt sein Hirn die soziale Welt zu Gunsten einer mystischen, wo er das ist, was die Liebe zu Sex ausmacht: ein Forscher. Dann ist die Frau, mit der er horizontal kommuniziert, für ihn immer dasselbe Wesen. Das Weib eben. Sie hat keinen Namen, oft erinnert er später nicht einmal ein Gesicht, es sei denn, ihre Lippen waren unvergesslich. Aber sonst ist das Weib ganz Leib. Eine Kultstätte, eine Kirche. Er ging fremd und blieb treu: Es gibt keine Andere, Darling, ich war lediglich beten. 

I know, Madam. Das ist vordergründig die Abteilung Frechheit. Ein derartiges Arschloch hat also die Frau objektiviert, nicht weniger. Er hat ihr das Persönliche genommen. Das, was sie von anderen Frauen unterscheidet. Im gesellschaftlichen Leben wird das gemeinhin als Degradieren verstanden. Aber im Bett bei der sexuellen Kommunikation geht es (auch) um andere Faktoren. Es ist kein Dinner for Two im sozialen Umfeld des Restaurants. Im heterosexuellen Fall ist es eine ewige Begegnung von Frau und Mann. 

Ausgabe Nr. 450! Check dir doch dein ABO für uneingeschränktes Lesevergnügen im Sommer 2022/Print on the beach/Print zu Hause/Print wo immer du willst … Model: KALINKA KALASCHNIKOW/Foto: Kalinka Kalaschnikow

Bei großer Liebe zu Sex offeriert das auch eine Chance: Du kannst deine Langzeit-Loverin objektivieren – wenn du kannst. Du kannst auch treu sein und dennoch sozusagen fremdgehen. Das Problem mit langen Beziehungen ist, dass der sexuelle Forschungsgeist erlahmt, je länger du den Partner bzw die Partnerin kennst. Das ist unvermeidlich. Letztlich war der Partner bzw die Partnerin anno erster Liebe auch für das Neugehirn ein unbekanntes Wesen und, weil verliebt, eine Idealversion der realen Person – die halt im Lauf der Gemeinsamkeit immer realer wird. Tatsächlich bist du allmählich über­in­for­miert. Da fehlt die Neugier.

Aber beim Sex kann sie wach bleiben, jedenfalls für den Mann (der Testosteron-Überschuss, wie erwähnt). Mit dem (Ur)weib, das du ein Leben lang verstehen willst, wenn auch letztlich vergeblich, ist das sexuell möglich. Und so kann auch Treue geil sein. 

(1) Somerset Maugham