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Dirk Stermann – Kein Holz vor keiner Hütte

Christian Jandrisits

Dirk Stermann kolumniert seit ­Jahren im WIENER, heißt wöchentlich Österreich ­willkommen und ist erfolgreicher Autor.

Gewitter nehmen zu. Daran werden wir uns gewöhnen müssen. Bäume werden uns auf die Häuser und Autos fallen, das wird bald nicht mehr in der Zeitung stehen, weil es so oft passiert, dass es keinen Newswert mehr hat. Manche Länder werden zu Atlantis, man wird Spiegeleier auf der flachen Hand braten können, wenn man sich zuvor ein wenig Butter auf die Hand schmiert. Nachdem seit Jahren alle Wissenschaftler der Erde, denen man Tassen im Schrank zuordnen kann, von „Es ist fünf vor Zwölf“ reden, ach, was, seit Jahrzehnten tun sie das, wird man nicht verwundert sein. Auch wenn man die Uhr nicht so gut lesen kann, wird man erahnen können, dass fünf Minuten nach Jahren um sind. Also wundern wir alle uns nicht, sondern stellen uns darauf ein. Wenn es zum Beispiel zu viele Hitzetage hintereinander gibt, werden alle Bäume absterben. Dann kann man sich das mühsame Baumhaus-für-die-Kinder-Bauen sparen.

Dirk Stermann kolumniert seit ­Jahren im WIENER, heißt wöchentlich Österreich ­willkommen und ist erfolgreicher Autor.

Es wird weniger Schatten geben, so dass man dann im Sommer nicht mehr wird sagen können: „Es hat 45 Grad im Schatten“, sondern nur mehr: „Es hat 45 Grad.“ Unsere Sprache wird sich verändern. Die Worte „Schatten“ und „Baumhaus“ werden aus dem aktiven Wortschatz verschwinden, aber so ist es bei der Sprache. Sie entwickelt sich. Das Polnische zum Beispiel kennt ulkige Buchstaben, die es nur im Polnischen gibt. Aber weil die Polen-Kids auch alle Handys haben und sich gegenseitig zutexten, Nokia und iPhone aber für die paar Polen nicht extra die Buchstaben zur Verfügung stellen wollten, verschwinden diese Buchstaben. Sprachdarwinismus. Ist so, muss man annehmen, zu spät, sich aufzuregen. Bäume und komische polnische Buchstaben verschwinden, so wie zum Beispiel Aderlass auch nicht mehr häufig verwendet wird. Zumindest nicht in den Krankenhäusern meiner Wahl. 

Die schwarzhalsige Kamelhalsfliege ist „Insekt des Jahres“ und frisst die Larven von Borkenkäfern. Ihr kann man nicht vorwerfen, dass es immer schlechter um die Bäume bestellt ist. Wer in diesem Jahr, wo es ja noch möglich ist, ein Baumhaus für seine Kinder gebaut oder gekauft hat, ist jetzt verschuldet. Holz ist sauteuer geworden, auch schlecht für den WIENER. Jede Seite im WIENER und jedem anderen Magazin, jeder Tageszeitung und jedem Roman, kostet das Vielfache von vor, zum Beispiel, 5 Jahren. Papier ist wie Gold und Holz wie Diamanten.

Die schwarzhalsige Kamelhalsfliege lächelt über uns. Sie hat schon zur Zeit der Dinosaurier gelebt und deshalb viel erlebt. Eiszeiten, Meteoriteneinschläge, Hitzeperioden, Menschen. Sie kann sich nur wundern über uns. Sie lebt einfach immer weiter. Eine Überlebenskünstlerin. Sie lebt nicht monogam, vielleicht, weil ihr Gehirn so klein ist, dass sie sich ihren Partner oder die Partnerin nicht merken kann. Egal. Sie stehen sich vor der Paarung gegenüber und schauen sich an. Lange. Senden dabei irgendwelche erotischen Lockstoffe. Wenn sie sich „riechen“ können, dreht sich das Weibchen irgendwann um und los geht’s.

Willkommen Wiener! Dirk Stermann

So treiben sie es seit Jahrmillionen. Ohne Handy, ohne Polnisch-Kenntnisse, ohne warnende Wissenschaftler, ohne WIENER, ohne uns. Dass sie zum „Insekt des Jahres“ gewählt worden sind, dürfte ihnen auch egal sein. Und falls sie sich dafür interessiert haben, dürften sie von der Wahl nicht überrascht gewesen sein.


Es gab nämlich nur einen Gegenkandidaten: Die asiatische Tigermücke. Die Tigermücke überträgt unangenehme Krankheiten auf den Menschen und Menschensaßen in der Jury. Na, wen werden sie gewählt haben? Die Arschloch-Tigermücke oder die brave Bekämpferin der Borkenkäfer? Eben. 

Ich bin schon so gespannt, welches Insekt nächstes Jahr gewählt werden wird. Vielleicht die 24-Stunden-Ameise, die man auch Bullet Ant nennt? Ihr Biss gilt als der schmerzhafteste im Tierreich. Es wird beschrieben, als würde man 24 Stunden lang aus allernächster Nähe durchgehend angeschossen. In Amerika ist das ja vielleicht Alltag, aber für mich als pazifistischer Mittel­europäer klingt das enorm. Im November wird die Entscheidung bekanntgegeben, welches Tier es wird. Bis dahin werden viele Wissenschaftler überall auf der Welt noch oft sagen: es ist schon Zwölf. Oder fünf nach Zwölf. Aber wir werden sie reden lassen. Weil irgendwer aus unserer Familie uns alle Tassen aus allen Schränken geholt hat. Und die Baumhäuser unserer Kinder werden am Boden stehen.