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Fäulnis & Verderben – Dirk Stermanns Kolumne im WIENER W425

Die Gnade der späten Geburt ist vielfältig. Ich bin zum Beispiel ganz froh darüber, nicht im, sagen wir einmal, 17. Jahrhundert zum Zahnarzt gehen zu müssen. Das war eine Zeit, wo nicht einmal Privatpatienten gut behandelt wurden.

Nicht einmal einer der mächtigsten Männer seiner Zeit, nämlich Ludwig der XIV., dem man spaßeshalber ­folgende Worte in den Mund legt: „Ich stinke, also bin ich.“ Sein Hausarzt Dr. Daquin war nämlich der Meinung, dass dem Zahn alles Üble innewohnt. Deshalb überzeugte er den Monarchen von einem radikalen Schritt. Er zog dem armen Ludwig alle Zähne. Leider riss er ihm bei diesem narkoselosen Vorgang Teile des Gaumens gleich mit heraus. Das aber hatte zur Folge, dass dem König beim Essen Teile der Nahrung aus der Nase kamen. Die Wunden im Mund wurden regelmäßig mit einem Brenneisen gelötet, sodass Daquins armen Patienten ein durchgehender Gestank von verbranntem Fleisch umwehte. Es war, so alle historischen Quellen, für Ludwigs Zeitgenossen ein Grauen, neben dem Hausherrn in Versailles sitzen zu müssen. Der zahnlose König war aber ein Vielfraß. Ohne Zähne schlang er das meiste unverdaut hinunter. Das führte zu Ekzemen am Schließmuskel, die ihm auch, natürlich wieder narkosefrei, entfernt wurden. Er blieb am Königspo chronisch entzündet, roch also aus Arsch und Maul wie der Mundgeruch des Teufels. Seine Mätressen beneidet man nicht. Kein Wunder, dass eine von ihnen religiös wurde und ihn auch zu einem frommen Mann bekehrte. Alles besser, als körperliche Lust mit dem Stinkemann ausleben zu müssen. Menschen suchten Ludwigs Nähe, weil sie sich einen Vorteil versprachen, mussten aber während des Gesprächs ihre Nasen überlisten. Fäulnis und Verderben kamen aus den Königsporen, egal, wie viel Puder er auf seine Perücke schüttete.

Daran denke ich manchmal, wenn ich zum Zahnarzt muss. Gut, dass mein Zahnarzt kein Schüler Daquins ist, und der Erfindung der Betäubungsspritze kann ich nicht dankbar genug sein. Medizinisch macht der Vergleich mit früher sicher. Zur Wiederbelebung verwendete man noch Anfang des 19. Jahrhunderts Tabak-Klistiere. Oral inha­lierter Tabak sollte Patienten ins Leben zurückbringen. So etwas steht heute nicht auf Zigarettenpackungen. „Rauchen kann Leben retten. Wenn Sie ­einen Bewusstlosen sehen, führen Sie ihm Tabak zu.“ Zu Recht, wie die heutige Medizin schlüssig beweisen kann. Im berühmtesten Spital des 18. Jahrhunderts, dem Hôtel-Dieu in Paris, ­lagen in jedem Bett vier Patienten. Der Vorteil war, dass man mehr Kranke unterbrachte, der Nachteil war, dass sich alle gegenseitig ansteckten. Lüften konnte man die Zimmer auch nicht, sodass es in den Räumlichkeiten roch, als hätte die Pest Fäulnis. Beschreibungen dieses Ortes sind nur etwas für Hartgesottene.

Ich bin auch manchmal unangenehm berührt, wenn meine serbische Nachbarin kocht und der ganze Flur riecht wie ein Schlachtfeld am Amselfeld. Aber immerhin nicht wie damals in Paris, sag ich mir. Das Problem war seinerzeit allerdings auch, dass – wenn man das Stinkspital verließ, der Ohnmacht nah ob der olfaktorischen Folter – man auf den Straßen der französischen Hauptstadt immer noch die Nase geschlossen halten musste. Nicht erst seit Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“ kann man sich ungefähr vorstellen, wie es damals überall nach Kanal und frisch Erbrochenem roch. „Pesthauch und Blütenduft“ heißt das Buch von Alain Corbin, das Süskind inspiriert hat und dessen Lektüre viel dazu beiträgt, dass man Paris nicht mehr uneingeschränkt als „die Stadt der Liebe“ begreifen kann.

Gut, Frankreich, mag man denken. Weit weg, aber in Wien rochs damals sicher auch schon nach Vanillekipferln. Nein, das stimmt leider nicht. Wien galt im 18. Jahrhundert als Gestanks-Hauptstadt. Da hingen noch keine „Nimms Sackerl fürs Gackerl“-Plakate, weder für Hunde noch für deren Herrln. Da schiss und brunzte man einfach, wenn man musste. Die nobleren Damen und Herren warteten auf die sogenannten Buttenweiber, die zwei Fässer auf den Schultern trugen, fürs große und kleine Geschäft. Mit einem schwarzen Umhang konnte man sich bedecken und los ging’s. Das war alles vor der Einführung der ersten öffentlichen Bedürfnisanstalt in Wien im Jahr 1884. Vorher will man nicht durch die Stadt gegangen sein. Das will sich meine Nase alles gar nicht ausmalen.

Foto: © Udo Leitner