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Joker oder Der Incel ist gelandet.
Nicht jeder Soziopath ist ein Incel. Das gilt auch für den Joker. Aber das Masterpiece von Todd Phillips wurde unfreiwillig zum Trigger, diese toxische Onlineszene aus „unfreiwilligen Zölibatären“ ins massenmediale Licht zu rücken. Spurensuche zu einem Männertyp, den niemand braucht.
Text: Manfred Sax / Foto Header: Niko Tavernise/Warner Bros. Entertainment Inc.
„Bin das nur ich, oder wird die Welt da draußen immer verrückter?“ Nenn mir den Menschen, der nicht verstanden hat, was der jobbende Clown Arthur Fleck da zur Frau von der Sozialhilfe sagte, und ich zeige dir jemanden, der seinen Kopf habituell in den Sand steckt und das Kino irritiert, eventuell sogar empört verlassen hat. Ein verfilmter DC-Comic, hätte das nicht willkommenen Eskapismus servieren müssen, in dem „das Gute“ über den motivlos chaotischen Baddie triumphiert? Stattdessen flimmert da blanke Realität von der Leinwand, kommt Gotham wie der vertraute Slum einer City rüber, dessen Machthaber nur die blonde Perücke fehlt, um als der aktuelle POTUS transparent zu werden; wird mit dem Joker ein Protagonist präsentiert, dessen genial erfundene persönliche History den Filmfan auf seine Seite bringt: die Pseudobulbäre Affektstörung, die ihn zum Sonderling stempelt, ihn lachen lässt, wenn er eigentlich Angst hat; für die es Pillen gibt, nur halt nicht mehr für ihn, weil: Abbau der Sozialleistungen! Geh arbeiten, hol dir den Job, den es nicht gibt! Voilá, hier also die Vendetta des neuen Joker im Stil der Anarchos der 70er-Jahre: Mach kaputt, was dich kaputt macht. Kennen wir. Verstehen alle, die aus ihrem Herz keine Mördergrube machen. Und hat deren Like in einer Welt, die aus dem letzten Loch pfeift.
Klar daher, dass das preisgekrönte Meisterstück bei Komfortzone-Journalisten Unbehagen erzeugte, war da nicht schon 2012 anlässlich einer nächtlichen Vorstellung von „The Dark Knight Rises“ in Colorado ein Massen-Shooting mit zwölf Toten? Logisch, dass der Kritiker des erzkonservativen englischen Tagblatts „The Telegraph“ ein Verbot des Films verlangte (so ist das bei den Briten, auch Stanley Kubricks ähnlich brutales Werk „A Clockwork Orange“ war auf der Insel Jahrzehnte lang verboten). Inzwischen, in den USA, präsentierte das Magazin „Time“ einen passablen Blitzableiter – den „Incel“. Dieser Joker, schrieb Kritikerin Stephanie Zacharek, „könnte easy als Schutzheiliger der Incels adoptiert werden.“ Abteilung Sündenbock. Es ist, als würdest du im Restaurant eine vegetarische Speise verlangen, der Ober bringt dir irgendwas mit Huhn und meint auf deinen Protest nur, dass da auch Gemüse dabei sei. Verständlich, dass Regisseur Todd Phillips und Hauptdarsteller Joaquin Phoenix so manchen Journalisten, der im Joker einen Incel ortete, wortlos stehen ließen.
Tja, er ist wieder mal gelandet, zwar mit dem falschen Flieger, aber er hatte Touchdown. Der Incel, das toxische Mannsbild der Gegenwart. Selten, aber doch schaffte es ein Typ zum Begriff in den vergangenen Jahren in heimische Gazetten. Etwa Alex Minassian (25), seines Zeichens „Todesfahrer von Toronto“, der 2018 per Amokfahrt zehn Menschen – überwiegend Frauen – niedergemäht hatte, Facebook-Widmung inklusive. „Der Incel-Aufstand hat begonnen, gelobt sei Elliot Rodger“, hieß es dort. Dieser Mister Rodger wiederum hatte vor fünf Jahren sechs Menschen ermordet, darunter drei Frauen in einem Frauenhaus. Nur die Spitze eines Eisbergs, es gab da auch noch die „Campus-Killings von Oregon“ (2015, neun Tote), den Edmonton-Mord (2016, ein Toter), die „Highschool-Morde von Aztec“ (2017, zwei Tote plus Suizid des Täters) und etliche mehr – zusammengefasst, weil sich die Attentäter als Incels transparent gemacht hatten, im gemeinsamen Nenner stets das Motiv, allzu lange keinen Sex genossen zu haben, allzu oft von Mädchen abgewiesen worden zu sein. Elliot Rodger in einem Forum: „Eines Tages werden die Incels ihre wahre Stärke und Anzahl begreifen und das bedrückende feministische System stürzen. Stell dir eine Welt vor, in der Frauen dich fürchten.“ Sehr krank und offenbar nicht nur das, was hierzulande gern unter „Einzelfälle“ läuft. Offenbar gibt es Nester. Was sind das für Leute?
Was heißt da Incel?
Bekannt ist, dass sie sich als „unfreiwillige Zölibatäre“ verstehen, das Wort leitet sich von „INvoluntary CELibate“ ab. Weniger geläufig ist, dass es bereits seit 20+ Jahren im Umlauf ist – erfunden von einer Frau. 1997 hatte eine bis heute anonym verbliebene Kanadierin Mitte zwanzig von ihrer Jungfräulichkeit genug und unter dem Pseudonym „Alana“ die Website „Alana’s Involuntary Celibacy Project“ gegründet, einen ursprünglich „freundlichen Platz“, wie sie sagte (1), der sich bald zu einem Forum für Frauen und Männer auswuchs. Zu Facebook, Instagram & Co war es noch ein weiter Schrei, das Forum, bald auf „incel“ abgekürzt, war „eindeutig kein Haufen Kerle, die Frauen für ihre Probleme verantwortlich machten.“ (Alana) Ein Paar, das sich auf dem Forum „traf“, habe sogar geheiratet. Alana verließ das Forum nach ein paar Jahren, ließ es aber offen und wurde erst 2012 mit den News zu Elliot Rodger gewahr, was es mit den Incels mittlerweile auf sich hatte. Sie war „wütend“, sagt sie, „zornige Männer haben mir das Wort gestohlen und zu einer Kriegswaffe gemacht.“ Seit April 2018 betreibt sie das Projekt „Love, not Anger“. (2)
Die Incels selbst haben sich vermehrt wie die Kaninchen, online funktioniert so was auch ohne Sex. Stattdessen tummeln sich in ihrer „Cloud“ emotionsgeladene Begriffe wie Rache, Frauenhass, Menschenhass, Selbstmitleid, Selbsthass, aller denkbare Rassismus sowie ein kriminelles Verständnis von der Frau als Besitz. Ja, Moses, sieh dir an, was du da in die Welt gesetzt hast (Genesis 3). Amerikanische Rechtsorganisationen führen sie als „Teil eines patriarchalischen Ökosystems“ in ihren Listen über „Hassgruppen“. (3)
Inceldom – connected disconnected
Ihre Onlinenester sind omnipräsent, die Foren heißen „sluthate“, „4chan“ und so weiter, Reddit-Foren wie „incel.me“ und „r/braincel“ wurden am 30. 9. im Rummel um den Joker soeben aus dem Verkehr gezogen bzw. korrumpiert. Die mit dem Alt-Right-Spektrum verbundene antifeministische Plattform „Men Going Their Own Way“ verpisst weiterhin ihre toxischen Sprüche. Schon vom „Schwanzkarussel“ gehört? Demnach flittern junge Frauen in einer schier endlosen Sexorgie „von Alpha-Mann zu Alpha-Mann“. Kein Wunder also, dass für den unattraktiven Incel keine Frau mehr übrig bleibt, daher: Frust, ein Mütchen, das es zu kühlen gilt, gell?
Incels haben Schlüsselworte. Zum Beispiel den „Normie“, der ist ein Nicht-Incel. Es gibt auch den „Vocel“, den freiwilligen Zölibatären, der ist zu fesch, um ein Incel zu sein. Frauen werden generell als menschenähnliche „Femoids“ angesehen und in „Stacys“ und „Beckys“ unterteilt. Erstere sind „attraktive Schlampen“, dürfen sich daher nicht wundern, wenn Incels da übergriffig werden; im übrigen fordern Incels auch Straffreiheit für Vergewaltigung. Und die eher unscheinbare „Becky“ mit hoffentlich sexuellen Problemen, nun, die wär was. Eigentlich ein Traum, meinte ein Incel in einem der Foren: „Meine Fantasie ist eine sexuell verklemmte Frau. Wir würden ficken, als gäbe es kein morgen, bis sich ihre Verklemmtheit legt. Ideal wäre eine jungfräuliche Braut, sie ist loyal, weil sie niemanden hat, mit dem sie dich vergleichen kann.“ (4) Wer hätte gedacht, dass aus verklemmten Eigenbrötlern mit massiven Minderwertigkeitskomplexen je eine zigtausend Kerle starke sozialmediale Community werden kann, wohnhaft in einem virtuellen Staat, den sie „Inceldom“ nennen, online so connected, wie sie im Alltagsleben disconnected sind. Und klar, dieser Staat hat mittlerweile viele Orte. Da wäre etwa der „Dickcel“, ein Incel mit kleinem Penis, oder der „Mentalcel“, ein psychisch kranker Incel. Nicht zu vergessen: der „Currycel“, ein Incel aus Indien. Dann gibt es auch noch den „Chad“, den sexuell aktiven Mann, für Bewohner von Inceldom so was wie ein unerwünschter Ausländer und daher Freiwild für allerlei Schikanen bis hin zum Mord, geht es nach oben erwähnten Attentätern. Nur ein toter „Chad“ ist ein guter „Chad“, sozusagen.
Black Pill, eine Ideologie
Erinnerst du „The Matrix“, die Sache mit den blauen und den roten Pillen, blau für Menschen, die in ihrer Welt der Illusionen verbleiben wollen, rot für die harte Realwelt? Das Dumme ist, dass sich vergleichsweise „anständige“ Männerrechtsgruppen bereits die rote Pille einverleibt haben, um eine Welt zu sehen, in welcher Frauen Macht über Männer haben. Incels „nehmen“ daher die schwarze Pille als Meme, das ihre Hoffnungslosigkeit dokumentiert und eventueller Hemmungen entledigt, wenn es darum geht, Sexismen zu verbreiten und Frauen als egozentrisch, grausam und geistlos zu dissen. Das nennt sich „Blackpilling“. Das Meme wird in Inceldom auch verwendet, um eine Anhängerschaft zu Donald Trump zu signalisieren, der sei ähnlich unfähig, wie es heißt (5), er denke wie ein Incel, sein „Grab them by the pussy“ kam in Inceldom großartig an.
Ja, Arthur Fleck hat recht, die Welt wird immer verrückter. An ihrer Wurzel steht der entfremdete, großteils weiße Mann, unfähig, sich der Frau auf gleicher Augenhöhe zu nähern, ein Analphabet, wenn es um sexuelle Kommunikation geht, als Machthaber von der #metoo-Bewegung entblößt, als sozialer Versager durchaus imstande, bei Gelegenheit rotzusehen, es braucht nur den richtigen Auslöser. Und nein, der Joker ist nicht so ein Trigger, er hat nicht das Zeug zum Incel, es fehlt ihm die wesentliche Incel-Ingredienz: das Buckeln Richtung Machthaber und Treten dorthin, wo er kraft „Blackpilling“ einen alternativen Feind aus dem Ärmel zaubert, Frauen bevorzugt. Das macht der Joker nicht, er hat entdeckt, warum er ist, wie er ist, sein Feindbild ist real. Die Macher des Films haben sich das geleistet, was sich auch schon Martin Scorsese mit „Taxi Driver“ (siehe Kasten) geleistet hat und allzu selten geschieht: eine eingehende Beschäftigung mit der sozialen Realität. „Die Kackwurstbirnen“, giftet sich Österreichs EU-Kulturbotschafter, der Filmemacher Paul Poet, „die grad meinen, ‚The Joker‘ wäre Incel-Propaganda, meinen wohl auch, die Kampfaufrufe gegen die Regenwaldvernichtung wären Werbeschaltungen für globale Erwärmung. Das moderne Leben IST toxisch. Das zu ignorieren und die Filmsprache auszulöschen, die sich mit dem Horror beschäftigt, treibt uns nur weiter in den Abgrund. Wie schon Filmkritiker Dietrich Kuhlbrodt sagte: Man muss gefühlt haben, was das Falsche ist, um das Richtige zu tun.“
Gotham ist keine Fiktion mehr, Alter. In diesem Sinne: Her mit den Clowns!
(1) BBC-Interview: www.bbc.co.uk/news/world-us-canada-45284455
(2) sites.google.com/view/lovenotanger/home
(3) Hatewatch: Southern Poverty Law Center
(4) Quelle: daslamm.ch/
(5) greyenlightenment.com/the-trump-black-pill/
Filmklassiker
Reif für den Incel?
Sie ließen uns das Falsche fühlen, auf dass wir das Richtige tun. Aber sind die Antihelden dieser Klassiker auch Incels? Drei Beispiele.
Cuck (2019)
Der prototypische Incel
Ronnie (Zachary Ray Sherman) sitzt vor seinem Computer und ergibt sich dunklen Gedanken. Er ist ein Versager, nicht mal das Militär will ihn. Amerika ist meier, denkt er, das Land von illegalen Immigranten dominiert, die sind auch schuld, dass er keine Frauen kriegt. Du kannst nicht mehr stolz darauf sein, ein weißer Mann zu sein, heißt es in seinem Vlog. Online trifft er sein Idol, einen Führer der Alt-Rechten. Ja, Cuck ist der Film zum toxischen Incel-Phänomen. Ein möglicher zukünftiger Klassiker, wenn auch nur für die Bürger des Staates Inceldom. USA-Premiere ist am 4. November.
Taxi Driver (1976)
You talking to me?
Mehrfach preisgekröntes und gelegentlich als bester Film aller Zeiten gehandeltes Meisterstück von Martin Scorsese, dessen Kamera den Vietnamveteranen Travis Bickle (Robert De Niro), der nun als Taxifahrer sein Brot verdient, durch die Straßen New Yorks begleitet. Incel-Verdacht ist gegeben, Travis ist ein Soziopath, er hat chronische Insomnia und Depressionen und von Frauen keinen Tau – seine Vorstellung von einem Date mit Schwarm Betsy ist ein Pornokinobesuch. Weil sie ihn abweist, wird er auch zum mehrfachen Killer. Aber Frauenhass ist nie das Motiv, tatsächlich tut er alles, um die zwölfjährige Prostituierte Iris von ihrem Zuhälter zu befreien. Kontroverse: Der Film soll John Hinckley Jr. zum Mordversuch an Ronald Reagan motiviert haben. Scorsese war nahe dran, daraufhin die Kamera an den Nagel zu hängen.
A Clockwork Orange (1971)
Alex und seine Droogs
Die gewalttätigen Boys in Stanley Kubricks überwältigendem Werk könnten als Analog-Incels durchgehen, sie pochen auf „Ultraviolence“, vergewaltigen Frauen, massakrieren Sandler, und saudumm sind die „Droogs“ auch. Allerdings liebt Anführer Alex (Malcolm McDowell) auch Beethoven, dessen Musik als überwältigender Soundtrack herhält. Um den verstörend stylischen, in der Popkultur vielfach paraphrasierten Film zu sehen, mussten Briten nach Frankreich fahren. Der Klassiker wurde erst 1999 nach Kubricks Tod auf der Insel freigegeben.