AKUT

13 Nanometer Enthaltsamkeit

Angst versus Lust, einmal Quarantäne und retour: Zu Beginn des Shutdowns im März 2020 zog sich unsere geliebte Pandora Reithermann zurück und pflegte die Enthaltsamkeit. Doch der Sommer der Liebe naht.

Text: Pandora Reithermann, Fotos: Christina Noélle

Dienstag also. Dienstag könnte ich wieder Sex haben. Was heißt: ich werde wieder Sex haben. Also wahrscheinlich. Keine Ahnung. Wahhh. Das letzte Mal war ich so aufgeregt, als ich bemerkte, dass Benicio del Toro im selben Hotel wohnt wie ich. Aber bis zu diesem Dienstag ist es noch ein Weilchen, und dazwischen liegt – Premieren über Premieren – die erste Party mit den Girls. Auch auf diesem Gebiet bin ich, sagen wir, ausgehungert. Aber falls ich nicht mit einer Überdosis von irgendetwas im Irrenhaus und/oder im Spital lande: Dienstag.

Will-Kommen im freiwilligen Biedermeier
Bevor dieser Planet kollektiv vom asozialsten aller Viren gehatefucked wurde, wäre eine derartige Aufregung nie entstanden. Alles ist jetzt irgendwie anders, und doch so vieles gleich. Der Mann, mit dem ich schlafen möchte, zum Beispiel, ist derselbe wie der, bevor der Shutdown die nicht Liierten und das Leben Liebenden auseinandergerissen hat wie ein Wolf einen Babyschafbauch. Corona – das war, das ist nicht gerade Hochsaison für Freigeister. Die Pandemie in der Pandemie? Demonstratives Brotbacken, Dauerkochen, Home-Workouts, selber Putzen, bissel Existenzängste und Sex mit dem gleichen Partner: Nämlich seinem eigenen. Und die Singles? Sie wurden wie auch all jene, die von Partner bzw. Pantscherl räumlich getrennt leben, von berechtigten Sorgen um ihr Sexleben geplagt. Manche reagierten im ersten Urinstinkt mit gesteigertem erotischem Appetit auf die Katastrophe, andere verloren ihr Mojo komplett in den Weiten der Jogginghose. Ich versuchte, einfach bloß eine Frau zu bleiben. Ich selbst zu bleiben, in dieser eigenartigen, in dieser ach so anständigen Zeit, in der die Moral plötzlich Überlebensin­stinkt wird. Zur Bürgerpflicht wird. Willkommen im neuen ­Biedermeier, hallo, freiwillige Bürgerlichkeit, und danke, du Arsch-Virus, dafür, dass du uns erst alles genommen hast und uns dann fast alles wieder zurückgegeben hast – bis auf die essenziellen Dinge des Lebens: Umarmungen, Bussis, Küsse, Nähe, Körperwärme, Herzenswärme, Leidenschaft, Sabber, Sex. Was bist du, Corona? Eine perlenohrringtragende Helikoptermum mit türkisem Parteibuch? Die manisch-depressive Schwester von HIV? Was soll das alles, bitte? Shoppen dürfen wir, sollen wir sogar. Arbeiten eh klar, also wenn wir noch eine haben. Geld rein, Geld raus geht, aber rein raus mit einem schönen Fremden? Einem geliebten Menschen, der nicht ins gleiche Klo pinkelt wie du? Njet.

Mir blieb demnach nur der klassische Weg, um gemütstechnisch und hormonell halbwegs austariert durchs Leben zu kommen. Aber selbst der wird irgendwann fade, vor allem, wenn man schon jeden Darsteller der diversen Schmuddelfilmchen im Netz bei Namen, Size und Muttermal kennt. Die einzige persönliche Begegnung mit einem echten Mann in der strengen Phase der Isolation brachte mich dementsprechend durcheinander. Das Leben war so echt, die Sonne schien warm auf meine nackte Haut, der Wein floss – aber spätestens nach dem ersten Kuss ging ich heimlich Mund waschen und später Fieber messen. Und brach im darauffolgenden Gefühlschaos den Kontakt sogar ab. Corona hatte mich – so dachte ich – bürgerlich gemacht. Sittsam und rein. Denn es ist nicht nur ein moralisches, sondern auch ein gesundheitliches Dilemma, das uns plagt. Aber nun naht der Sommer, und ich habe den Kontakt wieder aufgenommen.

In unseren Flüssigkeiten lauert der Tod
Wie stellst du dir den Sommer 2020 eigentlich vor, fragte mich Franz, der WIENER-Chef. Eine Frage, die ich nur mit Fragen erwidern konnte: Werden wir uns wie die Tiere aufeinander stürzen, uns die Kleider vom Leib reißen und wie besessen ineinander eintauchen? Wird es wie in der Orgienszene aus Süskinds „Das Parfum“? Ein riesiges Bacchanal, bei dem sich jeder mit jedem vergnügt? Oder bleibt die Angst? Denn immerhin: Solang es kein Gegengift fürs Gift für uns gibt, ändert sich ja nichts. Wir müssen auf Distanz bleiben. Selbst wenn wir unsere teilweise fetteren, teilweise fitteren Leiber textilarm am Strand und an der Bar präsentieren. Selbst wenn uns die Tropennächte um den Verstand bringen. In unseren Flüssigkeiten lauert rein prinzipiell noch immer der Tod – oder zumindest die Aussicht darauf, einsam an einer Beatmungsmaschine zu hängen. Ich gebe es zu: Der Lockdown hat auch mich an die Grenzen der Belastbarkeit und darüber hinaus getrieben. Denn welche Möglichkeiten gibt es schon groß, sich auf „Long Distance“ zu vergnügen, wenn geht, auch miteinander?
Der Klassiker? Telefonsex. Ich habe in meiner Wohnung allerdings irrsinnig schlechten Empfang, beim einzigen Versuch also hörte man statt tiefen Seufzern leider nur: „Wie bitte?“ Erotische Videochats? Been there, done that, eh lustig, aber das erfüllt mich nicht – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Teledildos und interaktive Sextoys? Kann ich mir derzeit nicht leisten.

Vielleicht habe ich deshalb gleich ganz auf die Lust verzichtet. Alle Alternativen erschienen mir nach und nach witzlos, als würde man einen Gelsen­dippel immer wieder aufkratzen, dass er nie richtig abheilt. Corona hat mich auf kalten Entzug gesetzt. Ich bin sittsam und rein. Quasi revirginisiert. Solang, bis ich wahrscheinlich hell im Himmel vergehen werde – wie ein Stern nach seiner Explosion. Dienstag also. Bis dahin: Vergehen vor Vergehen. Sie kennen ­sicherlich diesen einen Moment, diese Millisekunde, bevor man jemanden küsst – diese qualvoll-­schönen Sekunden, in denen man vor Verlangen nach diesen einem Mund fast kollabiert. In diesem Moment verschiebt sich irgend­etwas in der Atmosphäre, er dauert ewig, und man ist ganz und völlig verloren.
Nachdem sich die erste Geilheit wie ein weidwundes Tier zum Sterben hingelegt hatte, blieb dieses eigenartige Gefühl der Sehnsucht mein Begleiter. Nackte, warme Haut. Nackte, warme Seelen. Und all die tausend Nervenenden, die sich der Berührung entgegenstrecken wie Blütenköpfe der Sonne. Billionen hoch spezialisierter Rezeptoren, die am ganzen Körper Druck, Dehnung, Vibrationen, Kälte, Wärme, Feuchtigkeit oder Schmerzen registrieren und zum Gehirn weiterleiten. Berührung ist keine Frage von Ja oder Nein, sondern voller Nuancen. Wussten Sie, dass der Mensch Erhebungen wahrnehmen kann, die nur 13 Nanometer hoch sind – was etwa der Größe von Viren entspricht? Jetzt wissen Sie es.

Nun.

Der Dienstag wurde ein Mittwoch, und der Mittwoch wurde ein Kuss. Oder zwei, drei. Ewigkeit. Es ist nicht der Sex, nach dem wir fiebern, es ist die Sehnsucht nach Erfüllung, die uns treibt. Und das wahrscheinlich ist die einzige Klarheit, die wir aus diesem Wahnsinn mitnehmen können. Die ich aus diesem Wahnsinn mitgenommen habe. Bin ich bereit, der Liebe zuliebe zu lieben? Bin ich bereit, meine Safety-Zone zu verlassen? Die Antwort auf aufgezwungene Bürgerlichkeit ist nicht animalisches Brunftgebrüll, die Antwort auf Struktur ist nicht das Chaos. Sondern die Frage: Was ist es mir wert, wer ist es mir wert, dass er mich berühren darf, außen, innen … Klarheit ist das einzige, das wir aus dem Chaos mitnehmen können. Dieses Leben, so fragil. 13 Nanometer entscheiden über Tod und Leben.
Machen Sie das Beste daraus. Es geht nicht darum, immer neue Löcher zu stopfen. Es geht darum, maskenlos zu sein.

Zwischen Angst und Lust irgendwo liegt die Wahrheit.