AKUT
Herr Kurt und Elton John
Die Geschichte eines Interviews, das eigentlich keines war.
Ist jetzt schon ein paar Jahre her. Ich flog von Hamburg nach Las Vegas. Für ein Interview mit Elton John. Ich war bestens vorbereitet, hatte einen ellenlangen Fragenkatalog mit an Bord. Meine Lieblingsfrage: „Sir Elton, lassen Sie uns doch bitte über diesen legendären Tag im „Sherry Netherland“-Hotel in New York sprechen. Sie saßen dort mit John Lennon vor einem Berg Kokain, als es an der Zimmertür klopfte. Durch den Spion sahen sie beide, dass es Andy Warhol war. Der hatte – wie meist – seine Kamera um den Hals. Stimmt es, dass John Lennon zu Ihnen gesagt hat: ,Willst du, dass er hier reinkommt und uns fotografiert, während dir eiszapfenweise das Koks aus der Nase hängt?‘“
Ich landete am Nachmittag und traf mich zwei Stunden später für die Besprechung letzter Details mit Elton Johns deutschem Manager an der Rezeption des „Caesars Palace“. Hier lief schon seit einiger Zeit „The Red Piano“-Show, in der „Rocketman“ Abend für Abend seine größten Hits zum Besten gab. Der Manager begrüßte mich freundlich und in lockerer Art: „Hallo, willkommen in Vegas! Na, wie geht’s?“ „Alles bestens, danke.“ „Kommen Sie“, sagte er, „gehen wir auf einen Drink in die Bar, es gibt da nämlich noch eine Kleinigkeit.“
Er bestellte sich einen Whisky. Ich nahm ein Bier. Wir prosteten einander zu. „Wissen Sie was?“, fing er an, „Elton John wird morgen eine Stunde lang proben. Und Sie dürfen dabei sein! Nur Sie und Elton John und ein paar Bühnentechniker in diesem großen Konzertsaal! Wenn Sie so wollen: eine Privatvorstellung für Kurt Molzer! Na, was sagen Sie?“ Ich war echt geplättet: „Das ist ja – der Wahnsinn, wie im Märchen.“ „Ja, das können Sie laut sagen, das macht er normal nicht.“ „Und wie komme dann ausgerechnet ich zu dieser Ehre?“ Der Manager stellte sein Glas ab, sah mich an und antwortete achselzuckend: „Weil das Interview nicht stattfinden wird, sorry.“ Ich erstarrte für einige Sekunden. Schnell fand ich aber meine Fassung wieder, denn ich dachte mir: „Die sind bekanntlich alle ziemlich durchgeknallt im Musikbusiness. Wahrscheinlich hat der Typ was genommen und erlaubt sich jetzt einen kleinen Scherz mit mir.“ Sein spießiges Aussehen sprach allerdings gegen eine solche Annahme; dieser Mittvierziger hätte genauso gut Versicherungsmakler sein können. „Guter Witz“, sagte ich nur und lächelte dünn. Aber der meinte es verdammt ernst: „Tut mir aufrichtig leid, Elton John hat jetzt ganz einfach keine Lust mehr.“ „Was heißt denn das? Einfach keine Lust mehr?“, rang ich nach Worten. „Ich bin extra elf Stunden hierher geflogen. Hätte man mir das nicht früher sagen können?“ Der Manager hob sein Glas zum Mund, nahm einen Schluck, stellte das Glas wieder ab und sagte: „Gestern hatte er ja noch Lust.“ Kann man sich eine größere Verarschung vorstellen? Ich kapierte gar nichts mehr. „Nehmen Sie’s bitte nicht persönlich“, fuhr er fort. „Bedenken Sie nur, dass Elton John ein Mega-Weltstar ist. Und Weltstars sind eben manchmal unberechenbar. Er hat sich heute nach dem Aufstehen vermutlich gedacht: Null Bock auf das Interview. Und das war’s dann, was soll man machen?“ Ich konnte es immer noch nicht glauben. Eine heiße Welle der Verzweiflung flutete durch meinen Körper: „Von Hamburg nach Las Vegas sind es neuntausend Kilometer.“ „Was sind neuntausend Kilometer für einen Weltstar? Ein Fliegenschiss.“ „Und er lässt sich nicht überreden?“ „Keine Chance, ich hab’s versucht. Aber Sie kriegen Ihre Privatvorstellung, versprochen. Elton wird Sie natürlich begrüßen und bestimmt auch nett und zwanglos mit Ihnen plaudern, ganz privat.“ Er klopfte mir auf die Schulter: „Ich muss jetzt los, morgen um elf an der Rezeption, ich bring Sie dann zu ihm. Tschüß.“
Nun saß ich da mit meinem Bier. Trank es in einem Zug aus. Anschließend soff ich den restlichen Whisky aus, den der Manager übriggelassen hatte. Der Barkeeper sah das und wirkte unangenehm berührt. Er fragte mich, ob ich noch einen davon möchte. Nicht nur einen. Ich betrank mich schnell und aggressiv und ließ immer mehr den Kopf hängen. Bis ich plötzlich in die prallen Schenkel einer Nutte blickte. „Do you want to talk?“, fragte sie mich. Ich richtete mich auf: „Nein, Baby, ich will nicht reden – aber ich will…ich will, dass du mir deine geilen roten Nägel ins Fleisch rammst, bis ich blute. Machst du das für mich?“ Sie wich zurück. Vielleicht bekam sie ein bisschen Angst. Nachdem sie mir prüfend in die Augen geschaut hatte, beugte sie sich jedoch wieder näher ran und sagte: „If you fuck me well I can do that.“ „Nein, ich will dich nicht ficken, Baby“, winkte ich ab, „ich will, dass du mir hier und jetzt weh tust, am Arm. Damit ich weiß, ob das alles nur ein schlechter Traum ist.“ Sie war einverstanden, verlangte für diesen Dienst ein Glas Champagner. Ich bestellte mir auch noch einen, krempelte rechts schon mal das Hemd hoch. Und bevor wir zu trinken begannen, hatte ich nahe am Handgelenk eine zehn Zentimeter lange, blutige Kratzspur. Im Traum hätte die nie und nimmer so furchtbar gebrannt. Ich bedankte mich beim Baby für den Schmerz, kippte den Schampus hinunter, bezahlte und wankte in mein Zimmer, das ich praktischerweise im „Caesar’s Palace“ gebucht hatte.
Da ich mich auf dem Weg dorthin mehrmals verirrt hatte, kam ich erst nach ungefähr fünfzehn Minuten an. Ich ging ins Bad, holte meine Anaconda heraus und brunzte ins Waschbecken. Da gab es ein Wandtelefon, oberhalb der Kloschüssel. Ich musste mich seitlich ein ganzes Stück strecken, um an den Hörer mit den integrierten Tasten zu gelangen. Und so geschah es, dass ich mindestens einen Viertelliter auf den Boden brunzte und mir dabei auch die Hose einigermaßen vollbrunzte. Als ich den Hörer in der Hand hatte, ließ ich den nicht enden wollenden Strahl wieder ins Waschbecken und wählte die Nummer meiner Redaktion in Deutschland. Während ich mir im Spiegel beim Brunzen zusah, meldete sich ein Kollege. Ich sagte ihm, das Interview sei geplatzt, weil Elton John abgesagt habe. „Du willst mich doch verscheißern. Außerdem klingst du betrunken“, gab der Piefke mir zur Antwort. Erst nach ein paar Minuten glaubte er mir. Und dann bekam er einen Lachkrampf. Ich sagte noch: „Das findest du wohl lustig, du Flachwixer.“ Aber dann bekam ich auch einen Lachkrampf. Während es mich schüttelte, packte ich meine Anaconda wieder ein. Ich beendete das Gespräch und machte mich an die Minibar.
Wie vereinbart, traf ich mich am nächsten Tag mit dem Manager wieder an der Rezeption. Wir gingen die paar Schritte in den hoteleigenen Konzertsaal „Colosseum“. Mehr als 4.000 Menschen passen da rein. Er gab mir noch einen Tipp: „Am besten gar nicht nachbohren wegen dem Interview.“ Elton John war schon auf der Bühne. Er trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, saß an seinem roten Klavier und klimperte ein bisschen rum. Als er uns kommen sah, ließ er abrupt von den Tasten ab und erhob sich. Er lächelte, seine Augen blitzten hinter der dicken Hornbrille. „I am pleased“, sagte er und gab mir die Hand. Alles total easy, der Mann war völlig entspannt, zeigte keinerlei Starallüren. Ich verstand erst recht nicht, warum es kein Interview geben sollte – und bohrte nach! Warum und wieso und wie schade und überhaupt! Fröhlich grinsend meinte er: „Not in the mood for an interview.“ Nicht in Stimmung also. Obwohl er scheinbar allerbeste Laune hatte. Es war zwecklos, ich gab auf und setzte mich in die erste Reihe. Los ging’s mit dem Lied „I’m Still Standing“. Auf einer riesigen Leinwand im Hintergrund lief ein von David LaChapelle kreiertes Video, das Elton John in verschiedenen, total ausgeflippten Bühnenoutfits zeigte. Dann sang er „Saturday Night’s Alright For Fighting“. Am Ende des Songs rief der Weltstar Elton John dem Kurtl aus Simmering eine Frage zu: „Do you like it?“ Der Kurtl aus Simmering reckte den Daumen nach oben, worauf der Weltstar Elton John „The Bitch Is Back“ anstimmte. Der Kurtl aus Simmering bekam eine Gänsehaut von oben bis unten und fühlte sich gerade ziemlich großartig. Das abgesagte Interview war ihm inzwischen scheißegal.
Als die Probe nach einer Stunde endete, schaltete ich mein Handy wieder ein. Mehrere Anrufe des Fotografen waren drauf – ein in Los Angeles lebender Deutscher, den wir für das Interview engagiert hatten. Im gestrigen Suff hatte ich vergessen, ihm abzusagen. Ich holte ihn schnell herein (natürlich hielt auch er die Absage für einen schlechten Witz) und bat Elton John um ein Erinnerungsfoto. Der von der Queen zum Ritter Geschlagene setzte sich mit vorgewölbter Brust, breit lächelnd und breitbeinig auf den roten Klavierhocker – ganz so, als wäre ER ein promigeiler Journalist. Ich platzierte mich schmal dahinter – ganz so, als wäre ICH der vom promigeilen Journalisten etwas angewiderte Weltstar. Zum Abschied umarmte mich Elton John mit den Worten: „Nimm’s mir nicht übel.“
Da es dieses Foto von Elton John und mir gibt, trug ich mich viele Jahre mit dem Gedanken, ein Interview einfach zu erfinden: „Elton John: „Ich kokse wieder – heftiger denn je!“ Ein ehemaliger Kollege von mir hat einmal große Teile eines Interviews mit Tom Cruise erfunden. Darauf hat man ihn gefeuert. Später hat er sich umgebracht, aber wegen was anderem. Und wie wir heute wissen, hatte „Der Spiegel“ ja auch eine besondere Vorliebe für Erfundenes – Relotius, gefallener Held du! Die Versuchung war groß für mich. Aber ich tat es nicht. Weil ich ein ehrenwerter, hochangesehener Journalist bleiben wollte. Ich versuche heute nicht einmal mehr, daran zu denken, dass ich so etwas Böses überhaupt je denken konnte. Eins mach ich dennoch: Ich lass jetzt zum ersten Mal das Foto von Elton John und mir abdrucken, weltexklusiv im WIENER.
Kurt Molzer
ist eine der heißesten Aktien unter den deutschsprachigen Journalisten. Er war Chefreporter bei „Bild“ und „Bunte“, Chefredakteur von „Penthouse“ und ist auch den Lesern von „RAMP“ kein Unbekannter. Für den WIENER lässt der gebürtige und nun auch wieder hier lebende und arbeitende Buchautor seine Hochzeiten als „GQ“-Kolumnist wieder aufleben. Allerdings in leicht veränderter Form.