AKUT

Warum Manufaktur boomt

Manufaktur boomt. Weil uns handgemachte Produkte weit mehr ans Herz wachsen als maschinell gefertigte, das liegt nicht nur auf der Hand, sondern lässt sich auch beweisen. Die Stichworte hierfür liefert Hochgefühl-Experte Dr. Christian Mikunda.

TEXT: FRANZ J. SAUER / FOTOS: ROLAND PUM

Tränen der Rührung zierten mei­nes Freundes Gesicht, als er mir von seinem selbst gemachten Messer erzählte. Höchstselbst geschmiedet hatte er es. Mit eige­nen Händen, nach fachkundiger Anleitung eines Experten. Freilich hatte er auch richtig bezahlt dafür, einerseits für den Werkstoff, tüchtig aber auch für die Expertise. Und er hatte ein furchtbar schlechtes Messer zusammen­ gedengelt. So stolz es da vor mir auf dem Garten­tisch glänzte, so wenig würde es mit den im Küchenblock steckenden Feiteln von der letzten Billa­-Bonuspunkte­-Aktion mithalten können, was seine eigentliche Hauptaufgabe betrifft.

Trotzdem rührte es seinen Schöpfer nachhaltig zu Tränen. Und auch eine ganze Reihe anderer Freunde, denen ich die Story eigentlich vortrug, um den Teilzeit­-Messerschmied aus unserem Freundeskreis ein wenig lächerlich zu machen. Alle wollten sie plötzlich auch Messer-­Macher werden. Ihr Schnitteisen selber schmieden, jetzt da sie wussten, dass man so was irgendwo machen kann. Über Kosten sprachen da selbst die engsten Geizhälse nullo. Bloß Terminkalender wurden gezückt, um ein gemeinsames Wochenende zu finden. Und zu guter Letzt hatten sie mich dann auch irgendwann angesteckt, mit ihrer frischen Faszination für schlechte Messer. Jetzt haben wir ein gemeinsames Date beim Messermacher, wir Burschen. Und ich seh mich auch schon plärren vor Glück.

Selbst gemacht

Ich memoriere die Pinzette, die mir die Mutter meiner ersten Tochter schenkte. Es war ihre Abschluss-Werkarbeit in der Maschinenbaulehre gewesen. Und obwohl das Ding eingewachsene Bart- oder Nasenhaare mit derselben Perfektion (und auch mit derselben Schmerzintensität) zupft wie jedes maschinell gefertigte Pinzettchen aus der Abverkaufs-Kiste – ich liebe diese Pinzette. Und ich denke, ich würde einem Einbrecher für den Raub dieses kleinen, federnden Stückchens Metall mit mehr Verve die Augen ausstechen als für das Entwenden der wertvollen Goldmünzen vom Uropa.

Werke der Hand sind Zeugnisse der Seele. Ein schlauer Spruch, angeblich von Karl Marx und gern zur Hand, wenn es um Handwerk geht. Oder eben um Sachen mit Seele, um näher am herkunftsauffälligen Werkstück zu bleiben. Tatsächlich ist es genau jene Seele, die uns ein Produkt einem anderen vorziehen lässt, obwohl es die gleiche Güte besitzt, die gleiche Funktion erfüllt und vielleicht sogar genauso aussieht. Selbstredend sind wir bereit, für diese Art von „Seele“, so unidentifizierbar sie auch sein mag, mehr Geld zu bezahlen als für das seelenlose Maschinenteil. Und so wie man sich einst, damals vor 150 Jahren, endlos dafür begeistern konnte, dass die industrielle Revolution den Fortschritt quasi mit Lichtgeschwindigkeit beschleunigte, so scheinen wir uns heute, wo wir alles und jedes zum Diskontpreis produziert kriegen können, wieder für die Gegenrichtung zu begeistern. Haben wir eigentlich alle einen Hieb? Seltsame Dinge geschehen…

Das Hochgefühl der Meisterschaft

Oder aber auch nicht, wie Dr. Christian Mikunda, weit gereister Uni-Dozent und von Harvard bis Klagenfurt als Begründer der Strategischen Dramaturgie bekannter Vortragender, zu beruhigen weiß. So haben wir das Hochgefühl der Meisterschaft, die Bewunderung der Bravour jahrzehntelang vernachlässigt. Und damit etwas unterdrückt, wonach wir uns eigentlich sehnen. Der Stoff aus dem menschlichen Chemiebaukasten dazu nennt sich Acetylcholin, ist ein Neurotransmitter und wird von Mikunda herrlich plakativ als „Trägermedium der Denklust“ eingedeutscht: „Wenn Sie zum Maßschuster Scheer in der Bräunerstraße gehen und sich ein Paar Budapester bestellen, dann dauert das drei Monate, bis die fertig sind, und nachher bezahlt man 5.500 Euro für nichts weiter als ein Paar Schuhe. Aber es ist nicht die Ware selbst, die diesen Preis rechtfertigt. Es ist die Bewunderung der Bravour in der Herstellung der Schuhe, mit der wir uns belohnen. Und für die wir bereit sind, einen astronomisch hohen Preis zu bezahlen.“

Überhaupt ist es die Dramaturgie eines Entstehungsprozesses, die uns fasziniert – was sich längst auch in Werbung und Marketing widerspiegelt. Es geht um die möglichst multimediale Inszenierung von Entstehungsabläufen, also um die sinnliche Erklärung von Gegebenheiten, und das bereits ab dem Jugendalter. „Die Kids schauen heute Galileo, wissen über Dinge Bescheid, die sie früher nicht ansatzweise interessiert hätten. Sie werden emotional-dramaturgisch an etwas herangeführt und erkennen das Begreifen von Dingen als eine Art von Lust, eben als das Hochgefühl der Denklust. Und nichts anderes passiert mit uns, wenn wir zusehen können, wie ein Produkt entsteht. Wir beginnen Sachen, deren Werden wir live miterleben, zu spüren. Dabei wird Neutrophin ausgeschüttet, der berühmte Schmetterlinge-im-Bauch-Neurotransmitter. Und das heißt wiederum, dass wir uns in das nämliche Produkt buchstäblich verlieben.“ Plötzlich versteht man, warum all die hübschen, anonymen Models, die uns früher vom Opel Kadett bis zum Yoka-Bett alles und jedes schmackhaft machten, durch nüchterne Abbildungen von Designern, Konstrukteuren, Erfindern oder simpel den Erzeugern des Produktes ersetzt wurden.

Wohlgefühl

Fühlen Sie sich da jetzt auch so wie ich ein bisserl ertappt? Müssen wir beide nicht, so Dr. Mikunda. Denn jenes wohlige Urgefühl, überdie Funktionalität einer Sache bis ins kleinste Detail Bescheid zu wissen, weil man sie ja selbst oder weil sie zumindest eine Person, der man vertraut, zusammengebaut oder erschaffen hat, funktioniert auch ohne perfide Werbung oder Marketing-Tricks. „Hand- oder selbstgemachte Produkte werden statistisch gesehen genauso oft kaputt wie maschinell gefertigte. Allerdings lässt einen das Wissen um die Genesis einer Sache nicht nur die bereits erwähnte Bravour wertschätzen; man bekommt auf der Werte-Ebene auch ein Gefühl von Nachhaltigkeit vermittelt – was uns vom Stress geplagten Kreaturen wiederum das Hochgefühl der Entschleunigung beschert. Wir chillen unterbewusst. Und das ist heutzutage unbezahlbar.“ Salopp zusammengefasst belohnen uns also Sachen mit Seele gleich mit mehreren Hochgefühlen; sie lassen uns Meisterschaft bewundern und Produkte begehren, deren Nachhaltigkeit uns entschleunigt. All das freilich im Gleichschritt mit dem latenten Expertentum für eh fast alles, das wir uns in den letzten zehn, fünfzehn Jahren stolz angeeignet haben.

Weil: Wer trinkt heute schon Wein, ohne zu wissen, wo er herkommt? Oder wer raucht heute noch Zigarren, über deren Entstehungsweise er sich nicht zumindest irgendwann einmal Gedanken gemacht hat? Alle sind wir Teilzeit-Baristas und wissen sogar den Namen jener Katzen, die Kaffeebohnen dadurch veredeln, dass sie sie fressen, nicht verdauen, aber fermentieren und wieder rausscheißen (nur mir ist er jetzt gerade kurz entfallen …). Spätestens zur zweiten mechanischen Armbanduhr lassen wir uns einen automatischen „Beweger“ einreden und nehmen auch die gute Lupe zum Okkasionspreis dazu, damit wir der Unruh und ihren klitzekleinen Zahnrad-Freunden künftig beim Unruhigsein zusehen können.

Und flugs sind wir schon beim nächsten interessanten psychologischen Belohnungsmechanismus angekommen, den uns Dr. Mikunda als „Priming“ vorstellt. „Das ist nichts weiter als die Vorinszenierung des aktiven Genießens einer Sache. Ich reflektiere die Entstehungsgeschichte der eben gerauchten Zigarre, denke an die Traube im Weinberg, während ich mein Glas Barolo schwenke. Und denke an den sympathischen, dick bebrillten Schweizer Uhrmachermeister, während ich mir morgens die Audemars Piquet Tourbillon aufs Handgelenk streife.“

Geiz ist out

Bauernfang? Mitnichten. Weil all diese netten Emotionen, von Bravour bis Priming, die all die feinen Chemikalien und Neurotransmitter an unser Lustzentrum andocken lassen, auf dass diese unseren grauen Alltag versüßen – die sind ja echt und nicht nur durch äußere Einflüsse vorgetäuscht. Man genießt real, egal ob zuvor von Werbung oder Marketing beeinflusst. Apropos Werbung: Einen der meist-gehassten Slogans der letzten 15 Jahre torpediert die Lust an der Meisterschaft mit, hm, Bravour: Geiz ist nicht geil, sondern out, in Terms of Handwerk. Weil: Von der Lust am Sparen war bislang in keiner Weise die Rede. Und having said all that sollte ich mich nun in die Ecke stellen wie ein hormonell unausgelasteter Jungspund, der von seiner feschen Freundin beim Porno-Schaun nebst allen peinlichen Nebengeräuschen erwischt wird …

… weil an dieser Stelle muss ich zugeben: Es bereitet mir sehr wohl Lustgewinn, den guten Roten vom Hillinger oder den wunderbaren italienischen Büffelmozzarella beim Hofer zum Diskontpreis einzuhamstern. Es beschert mir ein Gefühl von Smartness, das zu tun, ganz abgesehen davon, dass mir die genannten Güter dann daheim beim Verzehr auch wirklich schmecken. Ein weiteres Mal attestiert mir Christian Mikunda, damit nichts Verpöntes oder gar Böses zu tun, im Gegenteil: „Auch Preisgeschicklichkeit ist eine Form von Bravour. Und wenn die Diskonter endlich ihr schwarzes Marketing in positive Signale umwandeln, sollte das nicht nur die Werber, sondern eigentlich uns alle freuen.“

Ich wusste es von Anfang an: Am Ende wird alles gut.

DIE FOTOS

Roland Pum, geboren 1967, ist seit 2011 Photographenmeister und seit 1988 Tischlermeister, womit sich der Hintergrund seiner wunderbaren Motive verdeutlicht. „Die aus Holz gefertigten Skulpturen sind Reste meiner Tischlerprojekte, die Bilder sehe ich als Ausgleich zu meiner beruflichen Tätigkeit als Tischler.“ Mehr Infos und Bilder auf: rolandpum.com