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Sag mir, was dein Fetisch ist

Objekt der Begierde: Für den Chronisten ist es ein weiter Weg von der rituellen Verehrung bis zum göttlichen Sex. Für den Fetischisten ist es nur ein Sprung über den eigenen Schatten.

Text: Manfred Sax

Es kann einfach nur ein Ding sein, zum Beispiel ein winziger Stein, einer wie tausend andere am Strand. Aber kaum gerät er in Bezug, wird er was Besonderes. Das ist nicht seine Schuld, sondern die der Bezugsperson. So jemand wie jener Typ, der da – sagen wir – über den Milopota Beach der grie­chischen Insel Ios schlendert, Hand in Hand mit einer absurden Schönheit, die er gedanklich in den Stand einer Halbgöttin erhöht hat, seit sie vom Himmel herab direkt in seine Tristesse geplatzt war, um ihm zu zeigen, wie Leben geht. Eines jener raren Ereig­nisse, die einem Mann vielleicht einmal im Leben passieren und den Verdacht keimen lassen, dass Gott eventuell doch existiert, und ihn so doofe Sachen wie „our love comes from above“ flüstern lassen, ohne deswegen vor Peinlichkeit im Sand zu versinken. Und so spazieren die beiden also barfuß am Strand, und dieser winzige, flache Stein spießt sich zwischen ihre Zehen, und sie hebt ihn auf und schenkt ihm das gute Stück. Später, nachdem sie den Dampfer bestiegen hatte, um für immer zu verschwinden, kratzte er mit seinem Schweizermesser ein Loch in den Stein, zog einen Zwirn durch und hängte sich das Ding um den Hals. Der Stein war nun was Besonderes, ein Kraftdings, sein wertvollster Besitz. Ein Fetisch, mit dem er seine Halbgöttin abrufen konnte, um wieder hochzukommen, wenn ihn das Leben runtergebracht hatte.

Im Sinne seiner originalen Wortschöpfer ist dieses Verständnis von einem Fetisch vermutlich nicht. Von Portugiesen zuerst geprägt („feitico“), geriet der Begriff im 18. Jahrhundert im Zuge der Kolonialisie­rung Afrikas in den europäischen Sprachgebrauch. Mit animistischen Kulturen konfrontiert, die allen Objekten und Organismen und Tieren einen inne­wohnenden Geist zuerkannten, lernten die Invasoren von Menschenhand gefertigte Artefakte, die in reli­giösen Ritualen verwendet wurden, als Fetisch zu verstehen. Ein Fetisch war für die Europäer ein Objekt, das unter Afrikanern (bzw. „Barbaren“, „Wilden“) offenbar übernatürliche Kräfte freimachen konnte. Der daraus abgeleitete Fetischismus war der Glaube an diese Kräfte und die entsprechende Ver­ehrung der Objekte. Weil im westlichen Denken Gottheit von Natur immer unterschieden wurde (und nur eine Gottheit übernatürliche Kräfte haben konnte), verblieb der (religiöse) Fetischismus ein eurozen­trisches Konzept – von einem afrikanischen Objekt, das in Europa Fetisch genannt wurde. Die indigene Idee dazu wurde weitgehend abwertend behandelt. Der Glaube an die Geister, die via Fetisch gerufen wurden, konnte nur ein Aberglaube sein. Afrikaner seien nicht fähig, meinte etwa der Denker G.W.F. Hegel, abstrakt zu denken, ein Fetisch könne daher jedes erdenkliche Objekt sein, das mit eingebildeten Kräften getränkt ist.

Mit der Prägung des Wortes „Fetisch“ wurde aller­dings auch ein Begriff für etwas gefunden, das schon lange christlich war. Insbesondere zeit der Kreuz­züge war das namengebende „heilige“ Kreuz der ultimative Fetisch der Christen, ihr irrationales Beharren auf dessen unbesiegbare Kräfte die Basis für die vernichtende Niederlage in der Schlacht von Jerusalem (1187) gegen Muslimführer Saladin, den der Götzenrummel um dieses Kreuz laut seinen Biografen ordentlich angewidert hatte. Der allmäch­tige Gott, in den Augen gläubiger Christen das einzige Wesen mit übernatürlichen Kräften, hatte die Mutter aller Schlappen eingefahren.

Der Kreuzfetisch aber blieb. Und das kirchliche Hostienritual („der Leib Christi“) ist in einschlägigen Lexika unter „Einverleibungsfetischismus“ zu finden; das gilt auch für den Kannibalismus. (1) Tatsächlich ist nicht auszuschließen, dass der Fetischismus bereits in der Altsteinzeit zum menschlichen Alltag gehörte. Was hatte es mit der Venus von Willendorf auf sich, jener 11 cm hohen Kalkstein­-Statuette, deren Alter auf 28.000 Jahre geschätzt wird? War sie ein Glücksbringer für die Ernte? Oder war sie als Fetisch im Einsatz, um die Wohnstatt zu beschüt­zen? (2) Und wie steht es mit Talismanen und Amu­letten, spirituell geweihten Glücksbringern und magischen Objekten, die vor Krankheiten schützen sollen? Oder mit der magischen, heute noch weltweit bei Glücksspielern im Einsatz befindlichen Hasen­pfote, die mit allen hexerischen Wassern gewaschen war, wenn es sich um die linke hintere Pfote eines bei Vollmond am Freitag dem Dreizehnten in einem Friedhof mit silberner Kugel erlegten Hasen han­delte? Ausgesprochen „big“ im mitteleuropäischen Mittelalter auch der Atzmann, eine meist aus Wachs geformte „Rachepuppe“, die verblüffend an die im afrikanischen Voodoo eingesetzten Puppen erinnert. Aber wie für jede Fetisch gur gilt auch für diese Artefakte: Sie bedeuten nichts, solange ihnen niemand eine Bedeutung gibt. Sobald ein Verwender ihnen jedoch ein starkes Narrativ verpasst, hat auch das kleinste Ding das Zeug zum Fetisch.

Es waren kubanische „Wilde“, die früh erkannten, dass den Eindringlingen aus Europa einst ein Götze erwachsen sollte, der den zuvor als Alpha gehandel­ten Allmächtigen vergleichsweise zum Lercherl stempelte. Die Kubaner hielten Gold für den Fetisch der Spanier. Um sie loszuwerden, sammelten sie alles findbare Gold, feierten dem Edelmetall zu Ehren ein Fest – und warfen es ins Meer.

Fetischsex wird immer eine einseitige Affäre bleiben, es gibt keinen Stiefel, der sich in einen Fetischisten verknallt.

Im Zuge des Aufstiegs von Industrialismus und Bürgertum im 19. Jahrhundert wurde auch der Fetischbegriff erweitert. Karl Marx prägte in seinem „Kapital“ (1867) den Begriff Warenfetisch. So wie Gott das menschliche Denken beherrscht, meinte er, erscheinen den Produzenten die von ihnen produ­zierten Waren wie ein Fetisch. Fälschlicherweise, denn sie seien ja nur Vergegenständlichung von Arbeit. Wie in der religiösen Welt, wo „Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte und mit den Menschen in Verhältnis stehende Gestalten (scheinen)“(3), so kämen in der Warenwelt die Pro­dukte menschlicher Hand rüber, als seien sie „von Natur aus“ im Besitz eines Werts. Das sei Warenfetisch, und der Geldfetisch eine logische Weiterentwicklung desselben. Aber wie heißt es so schön: Der Pudding ist erst bewiesen, wenn er auch gegessen wird. Der Porsche beweist erst seine Fetischqualität, wenn sich der Gedanke „also, in diesem Auto könnte ich mir gut vorstellen, gebumst zu werden“ zwischen die Ohren der Beifahrerin nistet. Davon weiter unten.

Als Expansionen von Warenfetisch werden so Macken wie Uhrenfetischismus, Waffenfetischismus, aber auch Parfumfetischismus genannt – wenn also der Besitz von Statussymbolen zur Sammelmanie wird oder ins Sexuelle kippt. Letzteres wurde nun zeitgleich mit Marx Thema. Mit der Novelle „Venus im Pelz“ verankerte Leopold von Sacher­-Masoch den Sado­masochismus im öffentlichen Bewusstsein, mit seiner Arbeit über Fetischismus in der Liebe transferierte der französische Psychologe Alfred Binet den Fetisch in seine natürliche Heimat – den Sex. Der Fetischis­mus religiöser Prägung verlor an Bedeutung, mit Ende des Ersten Weltkriegs hob die Debatte über den sexuellen Fetischismus so richtig ab. 1918 schuf Oskar Kokoschka seine „Alma­-Puppe“, eine lebens­große, nach seiner Muse Alma Mahler benannte pelzige Puppe, die fast 100 Jahre später noch heftig diskutiert wurde. (4) Wenn das Alma Mahler sein sollte, warum dann der Pelz? War Kokoschka tricho­phil (Haarfetischist)? 1920 veröffentlichte der deut­sche Arzt und Sexforscher Magnus Hirschfeld, Erfinder des Begriffs „Transvestit“, seine „Sexual­pathologie“, ein de­-facto­-Lehrbuch über Fetischismus, vollgepackt mit Begriffen über Phänomene, von denen niemand wusste, dass sie existierten. Wenig später versuchte Sigmund Freud in seinem Aufsatz „Fetischismus“ klarzustellen, dass aller Fetischismus im Kern ein sexueller Fetischismus mit maskuliner Schlagseite sei: „Der Fetischismus ist ein Ersatz für den Penis … einen besonderen Penis, der in seiner frühen Kindheit wichtig war, dann aber verlorenging.“ Ja, der fehlende Penis seiner Mutter habe dem Boy Psychodramen beschert (Verdrängung) und ihn einen Ersatz finden lassen: den Fetisch. Die eminente amerikanische Feministin Camille Paglia (5) sieht es ähnlich, wenn auch anders. Sie nähert sich von der mythologischen Seite, hier der Mann als apollonischer Himmelsstürmer, den die Sehnsucht nach Reinheit zu den Sternen treibt (Apollo 11), weg von der dio­nysischen Natur des emotionalen Weibes. Für Paglia ist der Mann der personifizierte Fetischist. Weil Frauen nur sein müssen, um sexuell zu sein. Der Mann wiederum müsse sein „kleines Ding“ in eine „dionysische“ Wesenheit tauchen – eine riskante bis unheimliche Angelegenheit. Also her mit den Feti­schen, her mit „objektiven“ Szenarien und szenischen Objekten. Ohne Fetische, meint Paglia, würde ihn die Frau mit Haut und Haaren verschlingen. Mit Fetischen dagegen haben alle eine Chance. Die Frau, weil ihr Lustobjekthaftigkeit als ermächtigend widerfährt. Der Mann, weil Fetische das Verstehen seines Unterleibs beachtlich erleichtern können. Im Unterschied zum religiösen Fetisch ist die Kraft eines sexuellen Fetischs häufig leicht zu verifizieren. Ein Steifer hat weder Gewissen noch kann er lügen.

Als sexueller Fetischismus wurde anfangs eine se­xuelle Abweichung, eine Fixierung auf ein lebloses Objekt bzw. einen nichtgenitalen Körperteil gesehen. Dieser Ansatz müsste neu überdacht werden. Sexu­eller Fetischismus ist heute zu reich an Varianten, und ständig kommen neue dazu, weil auch Fetischis­mus etwas Organisches ist und sich mit der Gesell­schaft verändert (unlängst outete ein Kurzweiler seinen Fetisch als „von einem Game­ of­ Thrones­-Charakter geköpft werden“). Allein der Überbegriff Fruchtbarkeit gibt jede Menge Varianten her, es gibt den Befindlichkeitsfetischismus, den Menstruations­fetischismus, den Schwangerschaftsfetischismus, den Laktationsfetischismus und so weiter. Dass der Ammenfetischismus in einen Babysitterfetischismus kippte, ist nur logisch. Auch im sexuellen Bereich kann prinzipiell jedes Ding zum Fetisch werden, man nehme ein Lineal, das ist nicht unbedingt etwas, das dich sofort an den Schritt greifen lässt, es sei denn, du stehst auf Milf­-Spanking. Wie generell im Sex übt der Geruchssinn den stärksten Einfluss auf den Fe­tischisten aus, die entsprechenden Alternativen sind unendlich, vom Haar über Achselhöhlen via Anus bis hin zu den Zehen, von gebrauchter Wäsche und anderen Materialien gar nicht zu reden, einem Geruchsfetischisten ist nie langweilig.

Tatsächlich ist es müßig, hier noch weitere Beispiele anzuführen, es gibt nichts, das es im Fetischismus nicht gibt, schon von der Selenophilie gehört? Das wäre also die sexuelle Erregung durch eine Mond­kraterfickfantasie. Außerdem sind Sexfetische heu­te so en vogue, dass uns auch Celebrities nicht mehr mit ihren Fantasien verschonen. Bekanntlich outete sich Scarlett Johansson als Vehikelsexfetischistin, Quentin Tarantino kommt an Füßen nicht vorbei, Eva Longoria liebt BDSM, der Basketballspieler Shaquille O’Neal findet Menstruationsblut unwider­stehlich, Paul McCartneys Exgattin Heather Mills lässt sich gern als Vorspiel über das nach der Am­putation verbliebene Bein streicheln und Angelina Jolie ist überhaupt von Kopf bis Fuß kinky.

Von der Sichtweise des Objekts aus gesehen wird Fetischsex immer eine einseitige Affäre bleiben, es gibt keinen Stiefel, der sich in einen Fetischisten verknallt. Andererseits hat auch ein Stiefelfetischist mitunter den Blues: „Es gibt kein unglücklicheres Lebewesen unter der Sonne“, meinte einst Karl Kraus, „als einen Mann, der sich nach einem Stiefel sehnt, sich zum Zwecke aber mit einer ganzen Frau abgeben muss.“

Alles ist möglich, allerdings hat auch der Fetischsex seine Stadien. Es beginnt mit dem „Fetischzauber“, schreibt Magnus Hirschfeld in seiner Sexualpatholo­gie. „Die Anziehungskraft, welche eine Person auf eine andere ausübt, geht niemals von ihrer Gesamtheit aus. Es sind vielmehr immer nur einige körperliche und seelische Eigenschaften, die reizen und fesseln.“ (6) Oder eben Objekte, die eine Erregung triggern. In der Folge kann es, zweitens, zur Fixierung kommen, also zu einem gewissen Zwang, zum Objekt der Begierde zu gelangen. Diese Fixierung kann, drittens, in eine Manie ausarten, eine Spätphase, in der etwa ein(e) Bartfetischist(in) zum Haarabschneider wird und die Haarschüppel zu sammeln beginnt. Der manische Fetischist ist ein Sammler, und es mag sicher Fetischis­ten geben, denen ein Besuch beim Therapeuten nicht schaden würde. Aber fetischistische Reize im part­nerschaftlichen Kontext können eine nette Brücke zu gutem Sex sein. Und eins sollte man nie vergessen: „Wenn du etwas zum Fetisch machst, werden dich Asche und Staub verlachen, weil sie wissen, dass auch der wertvollste Fetisch sich einst in Asche und Staub verwandeln wird.“ (7)

(1) Der Kannibalismus erfüllte in animistischen Kulturen einen friedensstiftenden Zweck: Ein Stamm, der das Mitglied eines Nachbarstammes verspeiste, hat sich damit auch dessen Geist einverleibt und konnte daher nicht mehr angegriffen werden.

(2) http://mirtarotondo.com/blog/en/venus-of-willendorf-a-brazen-venus/

(3) Marx – Das Kapital, Erster Band

(4) Marquard Smith: The Erotic Doll, Yale University Press 2014

(5) Camille Paglia: Sexual Personae, New York 1990

(6) https://archive.org/stream/sexualpathologie00hirsuoft/ sexualpathologie00hirsuoft_djvu.txt

(7) Mehmet Murat Ildan