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Igor und Joseph Roth – Dirk Stermanns Kolumne im WIENER W433

WIENER-Kolumnist Dirk Stermann sucht via Internet einen Babysitter für seinen Sohn. Zwischen all den aufgebrezelten Girls ist er auf Dimitri gestoßen …

Ich bin nicht auf Tinder oder wenigstens Instagram, darum habe ich wenig Erfahrung darin, wie man sich selbst präsentiert, und ob es überhaupt noch möglich ist, ein Foto von sich selbst zu veröffentlichen, das nicht irgendwie sexy wirken soll. Aber ich bin jetzt auf einer Babysitter-Seite im Internet, um eine Kinderbetreuung für unseren Sohn zu finden. Ich habe meinen Wohnbezirk eingegeben und das Alter unseres Sohnes und bekam etwa 500 Angebote. Bei „Entfernung zum Wohnort“ habe ich „1 km“ angegeben. Das heißt, in meiner allernächsten Nachbarschaft gibt es 500 Menschen, die auf die kleinen Kinder anderer Leute aufpassen wollen. Wow. Auf jedes Kind gibt es also mindestens 5 Babysitter. Zu 98 % sind es junge Frauen zwischen 16 und 40. Von denen wiederum etwa 98 % Fotos von sich selbst auf die Seite stellen, die sie genauso gut auf Dating-­Seiten und Flirt-Portale stellen könnten. Geschürzte Lippen, das ganze Zeug.

Vielleicht bin ich da zu konservativ oder hab auf Youporn zu wenig Nanny-Pornos gesehen, aber ich tendiere bei möglichen Kinderbetreuerinnen eher zu
Präsentationen, die eine gewisse Seriösität ausstrahlen. Zwischen all den aufgebrezelten Girls bin ich dann auf Dimitri gestoßen. Dimitri ist 48 und sieht auf seinem Foto aus wie ein russischer Türsteher in der Freizeit. Verschwitztes Sweatshirt, genervter Blick. Er sieht aus, als wäre er gerade eben erst aus der Haft entlassen worden oder auf der Flucht, nachdem er ein fürchterliches Verbrechen begangen hat. Nennen Sie mich klischeebehaftet, aber mit Männern wie Dimitri würde ich auf Netflix Mafiarussen besetzen, die in der Hierarchie weiter unten angesiedelt und nur für Gewaltexzesse zuständig sind.

Die Sexbomben geben in ihren Selbstbeschreibungen alle an, kinderlieb zu sein, neben dem Studium immer schon Kinder betreut zu haben, kleinere Geschwister zu betreuen, Au-Pair-­Erfahrung in Costa Rica, Neuseeland und den USA zu haben, manche haben Babyfit-Kurse belegt und sind auf der PÄDAG. Dimitri kommt mit vergleichsweise wenig Text aus. „Heiße Dimitri! Suche Arbeit!“ Aus. Kein Wort zu viel. Keine verschwurbelten Angaben, von wegen „Ich bastle mit Ihrem Kind Minimundus nach“ oder „Ich male mit Ihrem Kind in einer behüteten Atmosphäre Blumen“, nichts. Nur: „Suche Arbeit!“

„Lieber Sohn, das ist Dimitri, dein Babysitter. Er wird in den meisten Ländern der Welt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht. “

Angenommen, ich würde nicht Lisa oder Sandy oder Marylou nehmen, sondern Dimitri. Wie würde dann eine Betreuung durch ihn aussehen? Würde er meinem Sohn Kampfsport beibringen? Systema? Den härtesten Kampfsport der Welt, den russische Sondereinsatzkräfte beherrschen? Eine so brutale Technik, gegen die MMA wirkt wie Badminton?

„Lieber Sohn, das ist Dimitri, dein Babysitter. Er wird in den meisten Ländern der Welt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht. Er wird auf dich aufpassen, während wir ins Kino gehen.“ Vielleicht würde es unserem Sohn sogar gefallen, endlich einmal ein anderes Männerbild vermittelt zu bekommen als das, das ich ihm vermittle.
„Papa, Männer lesen nicht „Das kleine Ich bin ich“ vor. Männer trinken Wodka und kratzen sich an den Eiern, und wenn das jemandem nicht gefällt, zertrümmert man dem das Gesicht!“

So ungefähr stelle ich mir Dimitri als Babysitter vor. Ich habe Freunden von Dimitri erzählt. Sie haben mich mitleidig angeschaut. Ihre Tochter ist zwei Jahre alt und sie haben neuerdings einen Babysitter für sie, der Igor heißt. Sein Foto auf Babysitter.com ist furchteinflößend. Gegen Igor wirkt Dimitri wie Mahatma Gandhi. „Igor ist Schachgroßmeister. Er kommt aus Brod in der Ukraine und war dort Germanistikdozent. Er ist auf Joseph Roth spezialisiert. Er hat unserer Tochter das Gesamtwerk von Mira Lobe auf Ukrainisch übersetzt. Sie kann das kleine Ich bin ich jetzt zweisprachig“, erzählten mir unsere Freunde begeistert.

„Wow“, sagte ich und ärgere mich jetzt, dass ich nicht Dimitri angeschrieben habe, sondern zum Casting nur Lisa, Sandy und Marylou eingeladen habe, die nicht den blassesten Schimmer von Joseph Roth haben. Wahrscheinlich hat unser Sohn deshalb jetzt schon einen kaum mehr einzuholenden Startnachteil.

Foto: © Udo Leitner

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