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Die Sache mit den Grenzen

Wir hatten gerade Wahlkampf in Österreich, und mich würde eine Auswertung darüber interessieren, wie oft in den Reden das Wort „Grenzen“ gefallen ist. Wer bitte ist denn gewählt worden, um wem eine aufzuzeigen? Denn ganz verstehe ich die Sache mit den Grenzen nämlich nicht. Oder die der gefühlten Entfernungen. Sie müssen ein Irrtum sein, dennoch verkeilen sie sich im Kopf. Sie sind lästig, denn nie sind sie der Schutz, der etwas bewahrt, das für wirklich alle und jeden Sinn macht. Und wenn sie auf einer Landkarte eingezeichnet sind, diese Grenzen, dann stimmt irgendwas gefühls­mäßig gewaltig nicht.

Ein Beispiel: Ich bezahle freiwillig um zweitausend Euro mehr für Zahnimplantate, die mir in Wien angepasst werden, als dass ich in diese kleine Stadt in Ungarn fahre, nur 45 Minuten Autofahrt von Wien. Denn immer noch ist das irgendwie der Ostblock. Dort, in Sopron, ist bereits eine Art Implantat-Las-Vegas entstanden, mit Wellnesshotels und angeschlossenen Zahnarztpraxen. Man kann dort günstigst urlauben und einmal am Tag halt in die Praxis gondeln zum Anpassen, Reinschrauben, ­Herumtüfteln und danach Holly­wood-Gebiss-Spielen. Sie sprechen sogar Deutsch da drüben. Aber. Aber! Sopron liegt über der Grenze. Man fährt also an einem Haus mit einer Fahne (!) vorbei, dann piepst es nervös am Handy, und man wird in einem anderen (!) Land begrüßt vom eigenen Netzwerkprovider. Quasi als letzter Anker in die Heimat. Sie haben dort ein anderes Geld. Das ist man nicht mehr gewohnt, so als EU-Mensch. Fremde Münzen also und eine Mickey-Mouse-Sprache. Das will mein persönlicher Gott der Überwindung nicht. Ich lege also brav die Tausender Deppensteuer ab beim Zahnarzt am Rennweg in Wien. Übrigens auch 45 Minuten entfernt bei konzentrierterer Verkehrslage. Ein Rätsel, das.

Oder wieso ist mir mein Heimatdorf Fieberbrunn in Tirol so weit weg, so unerreichbar? Ist es, weil dort kein Haus mehr ist, in das ich ganz selbstverständlich hinein darf? Weil in meinem Haus Fremde wohnen? Und wenn ich dort womöglich vorbeispaziere, und es ist Licht in unserem alten Kinderzimmer, sich wohl ein kleines Messer in den Magen schwindelt? Ganz klein, so, als sollte ich es nicht bemerken, dass es sauweh tut? Weil es keine Verwandten mehr gibt, die dort wohnen? Weil nur mehr wenige dort sind, die mich aufwachsen sehen haben? Fieberbrunn ist unendlich weit weg für mich, hinter dem Mond, unerreichbar. Keine Gedanken an den Ort ohne diese Sehnsucht. Immer das Gefühl, das Leben sollte sich eigentlich dort abspielen. Sicher, wenn ich bei Trost bin und drüber nachdenke, will ich natürlich nicht in diesem Kaff wohnen. Aber … vielleicht, wenn ich es schaffe, irgendjemanden aus dem Dorf zu finden, der mich dort willkommen heißt, eine Nacht dort übernachten lässt, ohne bezahlen zu müssen, mir zu essen gibt und mich fragt, wie der Tag war, sind es vielleicht dann doch nur die 400 Kilometer, die es sind, von Wien bis nach Fieberbrunn?

Und dann gibt es überhaupt noch den allerentlegensten Ort des Kosmos. Es ist dieser kleine Straßenzug in Wien, im Nachbarbezirk, wohl keine zehn Minuten zu Fuß, oder sind es nur fünf? Es gibt dort kein Verstehen, keine gemeinsame Kultur, kein Gefühl. Nur einen riesigen Grenzberg, bewohnt von alten grauen Wesen. Man nennt sie die Unbesprochenen. Die Nichtaufgelösten. Die völlig Verzopften. Der Beginn der Straße, gleich beim Haus Nummer eins, der ist Abertausende Kilometer entfernt, wohl nie mehr erreichbar, nein, nie mehr. Dort wohnt jemand, dem man nicht verzeihen kann. Oder taucht man ein in die Unmöglichkeit? Und geht schnell die paar Minuten hinüber auf einen Kaffee? Kommt man an den Unbesprochenen, Nicht­aufgelösten und völlig Verzopften irgendwie vorbei? Oder zischen sie: „Schleich dich!“, und man ist zu waidwund, um ihnen zu wider­sprechen?

Dafür aber gibt es diesen kleinen Ort in Rumänien, in Transsylvanien eigentlich. Man war noch nie dort. Es ist das Dorf von Anna, meiner Reinigungshilfe. Sie war bei mir, als ich den Vater meiner Kinder getroffen habe. Sie war bei mir, als die Kinder geboren wurden. Sie war mit mir, als ich mit den Kindern in eine andere Wohnung gegangen bin. Und immer, wenn Zeit war oder Ablenkung not tat, kamen Geschichten aus dem Dorf bei Suceava. Es ist so nahe. Ich kann fast ihre Mutter sehen, die alte Frau, weit über 90 Jahre alt. Ich kann sie sehen im Kreise ihrer zehn Kinder, die mir alle lieb geworden sind. Sie schaut froh drein, denn sie muss nicht mehr in dem modrigen, verfallenen Häuschen wohnen, weil Anna ihr ein neues Haus hinbauen hat lassen. Mit einer Badewanne. Die Mutter hat einmal drinnen geschlafen, denn sie ist jetzt eine Königin, hat sie gesagt. Sie liebt übrigens meine Kinder, die Mutter von Anna, obwohl sie sie nie gesehen hat. Ganz nahe ist das alles. Keine Zweitagesreise, wie Anna immer sagt. Ich wünschte, ich würde sie alle einmal kennenlernen, also auch in 3D. Man liebt sie ja schon längst. Anna ist auch Alltagsphilosophin. Sie sagt: „Wir werden geboren, dann sterben wir. Dazwischen Scheiße oder nicht.“ Das ist sehr schön formuliert, finde ich. Und dann sagt Anna, wenn man sie fragt, wie das Gefühl ist, wenn sie über die Grenze fährt, nach Hause: „Rumänien ist Vergangenheit. Ballast. Und dann erst ein Land in der EU. Wenn ich nach Hause fahre, bin ich tausend Jahre alt. “

Womit wir wieder bei den Nationalratswahlen sind und den Sprüchen der Wahlwerbenden. Wenn also meine Grenzen und Entfernungen so durcheinander sind im Kopf, im Herzen und tatsächlich – wie kann sie denn dann jemand anderer für mich ziehen, sodass sie einen Sinn machen für irgend jemanden anderen – oder uns alle?


Heidi List
Wenn sie nicht liest oder Musik hört, arbeitet die zweifache ­Mutter selbstständig als Kommunikationsmanagerin und freie Autorin.