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„Hoamatlaund, Hoamatlaund,i han di sooo gern!“

Der habilitierte Wiener Kulturforscher Prof. Roland Girtler empfängt in seinem mit Büchern und Sammelstücken aus der ganzen Welt vollgestopften Büro in seiner Wohnung am Wiener Spittelberg. Er trägt einen Wildererhut und nimmt für uns eine alte Wildererbüchse auseinander, obwohl er natürlich streng gegen Waffen ist. Dann singen wir gemeinsam ein Wildschützenlied: „… nur ins Essigfasserl ham sie net eini­gschaut, do woar mein Büchserl drin und von da Gams de Haut …“

Datum: 2. März 2020, 13 Uhr
Ort: Wohnung des Professors im 7. Wiener Gemeindebezirk
Interview: Manfred Rebhandl
Fotos: Maximilian Lottmann

wiener: Herr Professor, danke für die hervorragende Topfenkolatsche. Kann Essen so etwas wie Heimat bedeuten?
girtler: Gemeinsames Essen natürlich! Das ist doch was Wunderschönes und Verbindendes! Die Einladung dazu liegt ja schon im Wort „Kumpan“ verborgen, Kumman’s mit zum „pan“, das lateinische Wort für Brot. Der Kumpan ist also der, mit dem ich gemeinsam esse. Diese Kolatsche hab ich übrigens von der Kemmetmüller Johanna in Spital am Pyhrn im südlichen Oberösterreich mitgebracht, wo wir beide ja gewissermaßen herkommen …

Ein Mitbringsel aus unserem ­Hoamatlaund also, wie das in der oberösterreichischen Landes­hymne vom Stelzhammer genannt wird, auf das wir beide stolz sind, weil es dort so wunderschön ist. „Homatlaund, Hoamatlaund, i haun di so gern …“
Der Stelzhammer ist jetzt leider auch in Misskredit geraten, weil er ein Antisemit war. Aber die oberösterreichische Landeshymne gefällt mir insofern sehr gut, als darin nichts vorkommt, was man als besonders „schön“ empfinden muss. Da wird kein Berg erwähnt wie im Steirischen der Dachstein, das finde ich gut.

Kein Priel, kein Pyhrgas … sind Berge überhaupt etwas, worauf man stolz sein kann?
Wir sind als Ganzes ein Alpenland bis auf das Burgenland … Wien ist eine Alpenstadt! Stolz? Ich weiß nicht, aber man kann ja darauf hinweisen, dass hier eine Kultur entstanden ist mit großen Schwierigkeiten, in der Auseinandersetzung mit den Bergen, das ist ja nicht so einfach, sich in so einer Gegend niederzulassen! Das Wort Kultur kommt ja vom lateinischen „colere“ – bebauen, bepflanzen. Ist also eigentlich bäuerlich, die Bauern sagen heute noch „Kultur“ zum Wald. Alleine das Roden des Waldes war eine Riesenleistung! Aber es ist immer blöd, wenn man glaubt, man ist selber der Gute deswegen und der andere in der Wüste z. B. der Blöde.

Sind wir „richtige Oberösterreicher“ dort, wo wir zwei herkommen?
Die ganze Gegend dort ist komplett slawisch: Tauplitz ist slawisch, Liezen ist slawisch, die „Kolatsche“ ist ein slawisches Wort und heißt „das Rad“. Stoder, wo gerade in Hinterstoder der Weltcup stattgefunden hat, ist „der steinige Boden“. Der „Priel“ ist slawisch, der „Pyhrgas“, der „Pyhrnpass“, „Ried“ – alles slawisch.

Wenn das die traditionell zahlreichen Freiheitlichen dort wüssten!
Der Slawe Ottokar Přemysl, der recht beliebt bei den Wienern war, hat Bruck und Leoben gegründet. Die vergleichsweise unbeliebten Habsburger wiederum waren Emigranten aus der Schweiz. ­Diese Durchmischung haben wir überall.

Sie selbst sind ja auch eine ganz schöne Mischung.
Wir sind alle ganz schöne Mischungen! Mein Urgroßvater, ein Linzer, hat das Postwesen von Bosnien-Herzegowina übergehabt, hat den ersten Postbus in Sarajewo eingeführt. Meine Urgroßmutter war aus einer französischen Offiziersfamilie, sie hat meinen Urgroßvater unter einem Regenschirm in Wien kennengelernt. Das (zeigt ein Foto) ist meine Großtante mütterlicherseits, die in Sarajewo aufgewachsen und hier in traditionell bosnischer Tracht zu sehen ist. Dieses Porträt­foto von ihr findet sich auf der ersten bosnischen Briefmarke von 1913. Da schau her, das ist die Tante Claire.

Sie klingen begeistert.
Mir gefällt so was! Jeder hat das in seiner Familie, diese Verbin­dungen zwischen den Kulturen.

Trotzdem reden alle von „Heimat“ und „Mia san mia“.
Die vertriebenen römischen Philosophen um den Ovid oder den Cicero haben ja schon gesagt: „Da, wo es mir gut geht, bin ich daheim“ – Patria est, ubicumque est bene. In Rumänien gibt es einen Wein, der heißt „Lacrima lui Ovidio“ – die Tränen des Ovid. Die Leute ziehen herum, seit es Leute gibt.

Wir haben vielleicht durch die ­Erfahrung des Kalten Krieges fälschlicherweise geglaubt, dass alles immer statisch bleibt: Wir da droben, die da drüben, und die dort unten.
Statisch bleibt nie etwas, der Dschingis Khan ist ja auch schon bis Wr. Neustadt gekommen. Die Magyaren wiederum waren ursprünglich ein wilder Stamm aus dem Ural …

… der noch sehr unchristlich war. Und heute glauben die Ungarn, sie wären die Oberchristen.
Richtig. Und das Wort „Hoamtl“ kommt schon in der Gotenbibel vom König Wulfila vor.

Wenn es schon schön bei uns ist, warum wollen wir dann nicht, dass es anderen bei uns auch ­gefällt und gut geht?
Das ist halt immer auch eine Frage des Neides und der Angst, dass man uns was wegnimmt, wie jetzt in Griechenland. Das muss man auch verstehen. Die Situation ist für die Griechen sehr schwierig, das ist eine Frage der Zahl: Wenn fünf kommen, ist es wurscht, aber wenn 5.000 daher kommen, haben sie Angst, dass man ihnen den Lebensraum wegnimmt. In gewisser Weise kann man das auch als „Eroberung“ empfinden: Die Syrer und Afghanen „dehnen“ sich jetzt aus, wenn auch ungewollt, weil von einem Krieg zuhause ver­trieben. Aber so läuft das in der ganzen Menschheitsgeschichte! Draufzahlen tun immer die Armen, weil die kommen jetzt aus Syrien auch nicht weg, wenn sie kein Geld für die Schlepper ­haben.

Was ist das eigentlich: ein Volk?
Heute ist man ja überhaupt abgegangen vom Begriff „Volk“. Ich hab noch Völkerkunde studiert, heute heißt das Kulturanthro­pologie, das ist doch auch eine Übertreibung. Dort, wo Menschen erniedrigt werden, ist es immer schlecht. Aber wo die Leute eine Freude haben und niemandem schaden, ist es doch wurscht, ob man sie „Volk“ nennt oder ­„Indigene“.

Oder „First Nation“. Sind Grenzen wichtig, oder stören sie nur?
Beides! Der Mensch will Grenzen, er ist da wie ein Kind. Er will sie aufbauen, will sie aber auch überwinden und niederreißen. Und er ärgert sich, wenn der andere über den Zaun kommt! Aber Grenzen werden immer überwunden, einer übernimmt immer Land vom anderen. Als Student war ich mal an der türkisch-griechischen Grenze, und was war? Dort, wo die Leute zusammen leben müssen, haben sie sich immer gut verstanden. Die einfachen Leute verstehen sich immer, sobald sie sich kennen lernen, machen Witze über den anderen: „Du Grieche!“ – „Du Türke!“ Dabei trinken sie gemeinsam Tee und lachen. Aber dann sind es oft Intellektuelle wie Pfarrer, die Ideologien entwickeln und sich einfache Wahrheiten zimmern, wurscht, ob „linke“ oder „rechte“. Jeder anständige Mensch ist ein sozial denkender Mensch, der die anderen akzeptiert. Gefährlich sind immer die Ideologen, die ­irgendwelche wilden Theorien aufbauen, die andere stigmati­sieren und sagen: „Das sind unsere Feinde, die gehören jetzt verbrannt!“, wie es die Kirche gemacht hat. Das ist auch eine ­Sauerei, wie die Kirche sich aufgeführt hat, furchtbar. Kinder sind verbrannt worden!

Sie selbst werden immer wieder als „rechts“ verunglimpft, weil sie bei einer schlagenden Verbindung waren und als Kulturwissenschaftler keine Scheu haben, auch mit „Rechten“ Umgang zu pflegen.
Mein Vater und mein Großvater waren schon bei der Verbindung, beides anständige Leute. Ich bin 1959 nach Wien und dann gleich zur Verbindung gekommen, ich kann nicht schimpfen über meine Verbindung, genauso wenig, wie ich über die Klosterschule in Kremsmünster schimpfen kann, in die ich gegangen bin. Wichtigstes Prinzip dieser Verbindungen ist, dass jede politische Meinung ­akzeptiert wird. Da war der Bis­marck genauso dabei wie der Vater vom Liebknecht, dem Gründer der Sozialdemokratie, der Marx war auch dabei. Eine interessante Geschichte kann ich zu den Schmissen erzählen: Mein Vater hatte fünf davon, der war ein schlechter Fechter. Später war er Arzt an der russischen Front, wo ein Soldat der Wehrmacht wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt wurde. Der Chef vom Militärgericht hat von meinem Vater verlangt, dass er den Verurteilten für „zurechnungsfähig“ erklärt, ­damit sie ihn erschießen können, aber mein Vater war ein Gegner der Todesstrafe und hat gesagt: „Na, der ist deppert.“ Daraufhin schaut ihn der Chef vom Militärgericht an und sieht die Schmisse im Gesicht meines Vaters, und der sieht in seinem Gesicht auch einen Schmiss. Dann nicken sich die beiden heimlich zu, beide im Wissen, bei einer schlagenden Verbindung gewesen zu sein, und das hat dem armen Hund das Leben ­gerettet. Das war das eine Mal, dass ein Schmiss einem das Leben gerettet hat!

Sie haben z. B. über Wilderer geforscht und über Strizzis: Sind Wilderer „links“ im Vergleich zu den vielleicht eher „rechten“ Jägern? Und „Strizzis“ links im Vergleich zu den die Ordnung hütenden, eher „rechten“ Kieberern?
Der Wilderer ist ein Rebell, der sich aber vom Revolutionär dadurch unterscheidet, dass er nur sein Recht zum Jagen und Schießen haben will, sonst gar nichts. Der ist kein Ideologe. Die Wilderer waren nur gegen die katholische Kirche und gegen die „Herrschaften“, weil sie sich von ihnen ausgebeutet fühlten. Rechts-links? Der Viktor Frankl sagt, es gibt zwei Rassen von Menschen, die sind überall gleich verteilt: die Anständigen und die Unanständigen. Die Unanständigen sind die Üblen, die andere erniedrigen und entwerten. Einer, der ist drei Tage älter als ich, hat einmal gesagt: „Drei Sachen gehen gar nicht: Hass, Neid, Niedertracht.“ Weißt du, wer das war? Der Bob Dylan.

Trotzdem schimpfen zwei Blöcke aufeinander ein, werten den anderen ab, erniedrigen ihn.
Ja, grotesk. Typisch für „rechte“ und „linke“ Ideen gerade bei der Entstehung von Nationen sind zum Beispiel Lieder, das schweißt zusammen. Die Linken haben aber die gleichen Lieder gesungen wie die Rechten, die gleichen ­Melodien mit anderen Texten halt. Wenn man also eine Gemeinschaft zerstören will, dann zerstört man zuerst die Symbole und verbietet die Lieder. Die draufzahlen, können sich dann wiederum als Opfer stigmatisieren: Hilfe, wir sind so arm! Aber oft ist es nicht so einfach! Ich habe ein Buch geschrieben über eine 17-jährige Jüdin, deren Vater in einer schlagenden Verbindung war. Die hat sich den Judenstern heruntergerissen und ist irgendwie nach Paris gekommen, wo sie in einer Druckerei der Deutschen Wehrmacht einen Job gefunden hat und dann im Chor der Deutschen Wehrmacht in Notre Dame gesungen hat, weil die gesagt haben, sie kann so gut singen.

Haben Sie auch so ein Liederbuch wie diese Burschenschaft Germania mit den niederösterreichischen Freiheitlichen um Udo Landbauer?
Da schau her, das ist das klassische allgemeine deutsche Kommersbuch GAUDEAMUS IGITUR – Lasst uns also fröhlich sein! –, mit vier Biernägeln drauf, damit es beim Biersaufen nicht nass wird, das hab ich. Da findest du kein antisemtisches Lied drin, das sind Vaterlandslieder, Heimatlieder, Wanderlieder, lustige Lieder, Sauflieder aus dem Jahr 1858, als man sich gegen die Fürsten aufgelehnt hat, also eigentlich „linke“ Geschichten. Und jetzt ­interessant: Genau dieses Liederbuch ist in der DDR wieder aufgelegt worden, ich war ja 1986 Staatsgast der DDR, da haben sie mir das gegeben. Und da schau her, da ist ein Aufsatz drinnen von einem deutschen Kommunisten, der in London den Nachlass vom Friedrich Engels in die Hand bekommen hat, der mit Begeisterung aus diesem Kommersbuch gesungen hat. In seinen letzten Lebensjahren wollte Engels seinem Kanarienvogel sogar noch das Lied Gaudeamus Igitur beibringen, das berühmteste deutsche Studentenlied mit lateinischem Text. Aber der Vogel hat das nicht kapiert bzw. hat der Engels so schlecht gesungen, dass er es nicht gelernt hat. So was gefällt mir! Dieses heute als „rechts“ verschrieene Liederbuch war in den Händen ­eines der Väter des Marxismus!

Haben Sie selbst ein Lieblingslied daraus?
Pass auf. Wie ich in Indien war auf Feldforschung als junger Kerl, da war ich bei einer vornehmen Familie in Bombay eingeladen zum Essen. Die haben für mich so schöne indische Lieder gesungen, und ich habe mit einem Lied aus diesem Studentenliederbuch gekontert: „Der Zwerg Perkeo vom Heidelberger Schloss, an Wuchse klein und winzig, an Durste riesengroß“ – ein klassisches Sauflied. Der Zwerg stirbt dann, weil ihm jemand Wasser gibt statt Wein, oder was weiß ich. Da haben die alle gelacht, die armen Inder, und ich hab nie wieder gesungen, weil ich so schlecht singe.

Was ist „rechts“ an so einem Lied?
Gar nichts! Das Lied „Gaude­amus Igitur“ ist von einem versoffenen Theologen namens Kindleben aus Halle ins Deutsche übertragen worden. Seine Lebensweise galt als für einen Theologen anstößig, er starb jung am Saufen und an den Weibern, so steht es im Internet. Ich selbst bin ja einer, der mit allen gut kann. Wenn ich mit Rechten zu tun habe, muss ich das Positive herausstreichen, muss Menschen akzeptieren, um auf sie einzuwirken. Darum finde ich es schlecht, von vornherein auf sie einzuschimpfen oder nicht mit ­ihnen zu reden, man muss halt oft ein bisserl Umwege gehen, verstehst? „Bist eh ein klasser Bursche, aber es ist ein Blödsinn, was ihr macht.“ Sonst hört keiner zu! Wichtig ist, dass niemand erniedrigt wird.

Einmal wollten sie FPÖ-Chef Norbert Hofer in Ihre Vorlesung über „Randgruppen“ einladen.
Na, was ich schon Ärger gehabt habe! Ich hab mir gedacht, das ist eine harmlose Geschichte, die freuen sich alle, ich diskutiere halt mit dem. Aber die Studenten haben sich furchtbar aufgeregt, also ist das nichts geworden. Ein anderes Mal habe ich in Innsbruck einen Vortrag über einen Wilderer gehalten, plötzlich wollten sie meinen Vortrag nicht mehr abdrucken. Warum? „Du hast schon in der rechtsextremen ‚Aula‘ publiziert!“, sind sie auf einmal drauf gekommen. Nämlich einen Text, der genau gleich in der jüdischen Zeitschrift „David“ erschienen ist. Hab ich denen also geschrieben: Leckt’s mich am Arsch oder so was. Daraufhin hat mich die Gitti Ederer im Parlament beschimpft, dass es eine Frechheit ist, dass es an der Uni Leute wie mich gibt, die Vorlesungen halten. Na gut. Später war ich mit einem Professorenkollegen klettern, wir haben an der Uni gemeinsam geprüft. Ich hab mich zwar nicht ausgekannt, was der macht, aber wurscht. Den habe ich auf der Rax zwei Mal aus der Wand gezogen, sonst wäre es dahin gewesen mit ihm. Wie er das gelesen hat im „Standard“, hat er der Ederer einen Brief geschrieben: „Liebe Gitti, ich lese gerade den ‚Standard‘ über Roland Girtler, den du taxfrei dem Rechtsextremismus zuordnest (…) Ich halte ihn salopp gesagt und etwas karikierend eher für einen Burschenschaftsromantiker des Jahres 1848.“ Jetzt schau nach, wer der Absender war?

Ähhh. Moment … oh, Alexander Van der Bellen.
Genau.

Könnte uns ein wenig Humor ­helfen?
Humor hilft immer, Humor ist ­immens wichtig.


Roland Girtler
wurde 1941 in Wien-­Ottakring geboren und wuchs als Sohn eines Ärzteehepaars in Spital am Pyhrn im südlichen Ober­österreich auf. Nach der Matura im Stift Kremsmünster kam er 1959 zurück nach Wien und trat dem schlagenden Studentencorps Symposion Wien bei. An der philosophischen Faktultät studierte er Ethnologie, Urgeschichte, Philosphie und Soziologie, wo er 1971 zum Doktor der Philosophie promovierte. In seiner Forschertätigkeit interessierte er sich vor allem für die „kleinen Leute“ und „Außenseiter“ wie Wilderer, Huren, Strizzis und Gauner. Der streitbare Autor zahlreicher Bücher ist verheiratet und hat zwei Kinder.