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Was wir 2020 gelernt haben

Nein, bitte, es stimmt nicht, für niemanden, dass es eine sinnlose Zeit ist gerade. Egal, ob wir in der Zeit einer Pandemie so leben wie eh immer, weil wir sowieso zurückgezogene Couchpotatoes sind, und deswegen aber lügen und sagen „Puh, na arg, ich habe so wenige soziale Kontakte“, um nicht als Asso aufzufliegen, oder an der neuen Ellbogengesellschaft mit so wenigen Umarmungen leiden. Ob wir um unsere Existenz ringen, weil während der Lockdowns keiner die Miete stoppen wollte und die „Koste es, was es wolle“-Hilfen leider nicht für uns gelten, oder alles so weiter tröpfelt, wie immer. Oder auch egal, ob unsere Kinder das Wenige, das sie zwischendurch von der Schule mitbekommen haben, auch schon wieder vergessen haben, oder aber sie haben ihre technischen Skills trainiert wegen des Onlineunterrichts, sie sind strukturierter und sprechen plötzlich recht ordentlich Englisch vom vielen YouTube Schauen, das möglich war, weil Home­office. Ob wir uns auftrainiert haben und so fit sind wie noch nie, oder ob wir alles mit zehn Kilo mehr aussitzen, es gibt auch was Einigendes an all dem. Wir haben alle ordentlich was gelernt. Zunächst einmal die Erkenntnis, was alles möglich ist. Obwohl in Österreich seit Jahrzehnten nichts in Digitalisierung und Netzwerkinfrastruktur in irgendeinem Bereich investiert wurde: Here we are now. Die meisten haben es kapiert. Jede Oma weiß nun, was Zoom ist. Und wir stolpern zumindest jetzt dem hinterher, von dem wir ahnen, dass es das braucht, um mithalten zu können in dieser digitalisierten Welt.

Wir haben in Dutzenden Pressekonferenzen das virologische Quartett erduldet, Kanzler Kurz, Vize Kogler, Gesundheitsminister Anschober und der Herr für Inneres, Nehammer, die erstaunlicherweise auch die wissenschaftliche Evidenz auszu­strahlen hatten, auf der ihre
Entscheidungen zu beruhen schienen. Weit und breit waren keine Expertinnen und Experten zu sehen. Ansonsten arbeitete man über Monate mit einer Datenbank, die aber nur auf etwa 7.000 Fälle ausgerichtet war, was am Höhepunkt der zweiten Welle zu einem Zahlenchaos führte. Am Gipfel hat sich keiner mehr ausgekannt, war aber wurscht, weil wir auf jeden Fall weltweit Nummer eins waren in Bezug auf Ansteckungen pro 100.000 Einwohner. Das war, nachdem der Kanzler Licht am Ende des ­Tunnels gesehen hat, sein berühmtestes Rhetorikgespenst.

Wir haben von einem Pandemiegesetz gehört, das bei Eintreten derselben abgeschafft wurde, um dann ein paar andere Gesetze und Verordnungen je nach Bedarf hingeschustert zu bekommen. Wir haben Virologen kennengelernt, manche wurden zu unfreiwilligen Popstars. Wir folgen auf Twitter auf einmal Statistikern, Datengurus, Mathematikern, Medizinern. Wir haben von exponentiellem Wachstum gehört und versuchen, zu begreifen, was das ist. Wir wissen nun, wie es in Intensivstationen zugehen kann. Triage wird wohl das Unwort des Jahres. Wir wissen, dass Österreich immer zu viele Intensivbetten hatte, früher vom Rechnungshof bekrittelt, jetzt war’s doch gut. Dann haben wir festgestellt, dass die absurde Menge von 7,7 Millionen Gesichtsmasken, die 2006 wegen ­einer Vogelgrippe angeschafft wurde und dann herumlagen, leider 2016 schlussendlich abgelaufen sind. Immerhin waren nach einer Testung 1,7 Millionen Stück davon doch zu brauchen. Was gut war, denn das größte Friedens­projekt aller Zeiten, die Europäische Union, ist angesichts der Pandemie schnell in ihre Nationalstaaten implodiert, wenn es zum Beispiel um das Teilen oder Ausliefern von raren medizinischen Gütern ging. Das hat bis zum Zurückhalten der von Österreich bereits bezahlten Ware in Deutschland geführt, denn dort konnte man sie auch brauchen. Keine konzertierten Pläne, keine Maßnahmenabsprachen auf europäischer Ebene oder gar ein Kommunikationskonzept für alle, keine gemeinsamen Reisestrategien. Irgendwann gab’s aber einen Geldtopf. Falls wer danach noch von dem was gehört hat, schöne Grüße. Wir haben festgestellt, welche Bereiche eine Lobby haben. Und welche nicht. Es wurden Interessengemeinschaften gegründet wie die IG Clubcultur. Nur die EPUler konnten sich nicht formieren und um ein finanzielles Auffangnetz bitten, die hatten keine Zeit, die mussten sich an den Haaren aus dem Treibsand halten.

Sicherheitskonzepte in so vielen Bereichen um horrende Summen wurden bewilligt, großes Aufatmen. Es half alles nichts im Lockdown. Willkür hat eine neue Dimension. So sind Bordelle von einer 80-Prozent-Umsatzentschädigung ausgenommen, Glücksspiellokale nicht. Kulturschaffende können Geld bekommen durch verschiedene Töpfe. Eine Ticketingfirma, die abhängig ist von den Auftritten der Künstler, nicht. Wir wissen, dass es eine Ges. m. b. H. gibt, im Kanzleramt, oder war’s im Finanzministerium, die niemandem auskunftspflichtig ist, wohin die Milliarden verteilt werden, die als Hilfe beschlossen wurden. Das politische Schlaraffenland, um den Günstlingen zu gönnen.

Wir haben gelernt, mit dem Entsetzen über die unwirklichen Berichte aus Italien, Spanien, oder den USA umzugehen. Zum ersten Mal ist in unserer Generation etwas mit unserer Gesellschaft passiert, was wirklich alle betrifft. Etwas, was im kollektiven Gedächtnis bleiben wird. Eine Realität wie ein fremder Film. Auch das war interessant. Dieser surreale Alltag mit dem verhassten Babyelefanten Abstand und Mund-Nasen-Schutz. Wir konnten bis ins Mark unsere Scham ausleben über die Tatsache, dass Österreich von Seilbahngesellschaften regiert wird und alles in ihrem Sinne zu dulden ist, inklusive des Sachverhalts, dass „alles richtig gemacht“ wurde im Bundesland Tirol, im Hinblick darauf, dass es wohl die Abertausenden Ansteckungen mit enorm vielen fatalen Verläufen gegeben hat, weil man Ischgl nicht rechtzeitig geschlossen und die Touristen nicht anständig durch das Prozedere begleitet hat. Hohn bekam viele Gesichter. Möbelhäuser werden mit 8.000 Besuchern eröffnet. Restaurants haben geschlossen. Dazwischen waren wir K1- und K2-­Personen, nie hat sich irgendwer ausgekannt, was dann genau zu tun war. Quarantänebescheide wurden Wochen nach der Quarantäne zugestellt. Man konnte bis zu 4,5 Stunden in der Leitung der Nummer 1450 bleiben, ohne dass sie abschnappte. Wir haben uns über eine Ampel gefreut und sie sofort wieder aus unserem Herzen gerissen. Wir wissen jetzt, wer systemrelevant ist. Wer vulnerabel ist. Dass Kinder gar nicht/genauso viel zum Infektionsgeschehen beitragen, je nach Studie. Das Thema hat ein paar Freundschaften gekostet.
Dann gab’s noch die Spinner. Es haben sich Leute dafür entschieden, dass es Corona nicht gibt. Immerhin drei von zehn waren der Ansicht, dass etwas an folgenden Theorien dran sein könnte: Corona ist eine Erfindung von dunklen Mächten. Oder, wenn es doch existiert, ist es nicht schlimmer als normale Grippe. 5G-Sendemasten sind für die Verbreitung des Virus zuständig. Oder: Bill Gates will Menschen mit Impfungen Mikrochips implantieren und kontrollieren. Oder: Das Coronavirus wurde als biologische Waffe entwickelt und freigesetzt. Oder: Geheimgesellschaften nutzen die Krise und wollen eine autoritäre Weltordnung errichten. Oder: Die Coronakrise ist ein konstruierter Vorwand, um die Freiheitsrechte dauerhaft einzuschränken. Oder: Der Impfstoff wurde bereits entwickelt, wird aber zurückgehalten. Oder: Alkohol und Nikotin schützen vor dem Virus (für Letzteres tritt die Autorin explizit ein, ist einleuchtend). Dagegen und auch gegen Maßnahmen wie ein Papierblatt vor dem Mund zu tragen, wird demonstriert, es latschen auch Nazis mit, egal. Überhaupt, Anticoronademos werden langweilig. Als weitere Themen für Demos sind vorzuschlagen: Nein zu Gravitation um jeden Preis – auch Dicke haben ein Recht, zu fliegen, oder Anti-O2-in-der-Luft – Demo gegen verpflichtende Atmung. Oder auch: Ja zu keiner Meinung, Hauptsache Nein.
Ansonsten wird weiter das ­Ottolenghi-Kochbuch durchexerziert. Auf Facebook matcht sich Backgruppe mit Fermentiergruppe. Wir haben unsere Playlists sortiert. Fotobücher ­gemacht. Oder endlich auf den Vorsatz, irgendwann welche zu machen, gepfiffen. Wir wissen, wer wir sind, wie wir aufgestellt sind, was wir wollen sollten. Wenn da Solidarität dabei ist, macht das die Chance für den Virus schon kleiner. Und wir tun einstweilen weiter so, als wären wir in einer merkwürdigen Bildungskarenz. Das alles wussten wir am Anfang des Jahres 2020 nicht. Und wir werden es uns merken. Alles.


Heidi List
Wenn sie nicht liest oder Musik hört, arbeitet die zweifache ­Mutter selbstständig als Kommunikationsmanagerin und freie Autorin.