Interview

Unter Brüdern

Manfred Rebhandl

Bert Rebhandl sitzt vor einer seiner Bücherwände in seiner Schreibstube in Berlin-Kreuzberg, sein Bruder und WIENER-Autor Manfred Rebhandl sitzt in seiner Bude in Wien-Fünfhaus. Via Skype unterhalten sie sich über die Bildungsaneignung der Brüder, erste Kino­erlebnisse und Bert Rebhandls erfolgreiche Bio­grafie über Kino-Enfant-terrible Jean-Luc Godard.

Datum: 21. 02. 2020 um 10.00 Uhr
Ort: Berlin Kreuzberg über Skype
Interview: Manfred Rebhandl

wiener: Lieber Herr Rebhandl, ist es für Sie okay, wenn wir uns
duzen?
rebhandl:
Unter Brüdern? Ausnahmsweise.

Gut. Ich hab, ehrlich gesagt, ein bisserl Kopfweh gekriegt bei der Lektüre deiner Godard-Biografie, von der Situationistischen Internationale über den Ben-Barka-­Konflikt bis hin zur Bewegung der Gnostiker ist alles drin, bei dem ich erst mal nachschlagen musste, was das überhaupt ist. Was wird unsere Mutter dazu sagen?
Ich denke, das Leben unserer Mutter ist auf eine so bodenständige Weise schön, dass sie sich mit solchen Themen zum Glück nicht beschäftigen muss. Sie hat ihre eigene Form von Intelligenz.

Eigentlich ist sie fast eine Zeit­genossin von Godard, zehn Jahre jünger. Aber sie lebt in einer ganz anderen Welt.
Darüber habe ich manchmal nachgedacht: Hätte es eine theoretische Möglichkeit gegeben, dass unsere Eltern, von denen wir ja wissen, dass ihr erster Kinofilm „Und Jimmy ging zum Regenbogen“ (1971) war, sich durch einen glücklichen Zufall stattdessen schon in den 60er-Jahren „Außer Atem“ ­angesehen haben könnten?

„Außer Atem“ haben sie vielleicht im Fernsehen gesehen, nachdem wir dann endlich einen bekommen haben und der Vater die Antenne richtig eingestellt hatte. Ich erinnere mich sogar, dass wir einmal zusammen „Weekend“ geschaut haben.
Bestimmt sind die berühmten ­Filme von Godard aus den 60er-­Jahren dann alle im ORF gelaufen. Ich weiß jedenfalls, dass wir bis zur Pubertät viele Fernseherlebnisse hatten, mit denen wir ein bisschen überfordert waren. ­„Weekend“ hätte mich als Zwölfjähriger definitiv beunruhigt.

Womit du auf jeden Fall überfordert warst, war die englische Serie „UFO“.
Die Serie „UFO“ hat meine Kindheit so stark geprägt, weil ich zwar wusste, dass das eine erfundene Geschichte ist. Ich hielt aber ihren Erzählkern für wahr. Ich verband also Realität und Fiktion, ein bedeutender Aspekt übrigens bei ­Godard. Der Grund: Wir waren einmal auf dem Stoderzinken zu einem Familienausflug, und auf der vermischten Seite der „Kronen Zeitung“, die wir mit hatten und die ich sonntags immer eingehend studiert habe, stand, dass man in Ohio, glaube ich, ein UFO gesichtet hatte. Ich habe damals nicht verstanden, dass die Seiten vier und fünf in der „Kronen Zeitung“ Quatschumgebung für die Busenfrauen waren. Ich habe der „Krone“ geglaubt, dass es UFOs wirklich gibt. In der Folge hatte ich jahrelang eine gewisse Grund­nervosität und hielt es für denkbar, dass eine Untertasse bei uns auftauchen und grüne Männer mich entführen könnte.

Darum hast du immer vorm Einschlafen unters Bett geschaut, weil die Außerirdischen ja dort hätten warten können.
Wir hatten ja damals diese seltsame Schlafsituation mit den Fußenden unserer Betten gegeneinander, unterm Bett waren die Staukästen, und ja, das war ein unheimlicher Raum.

Jedenfalls hast du dann immer mit zwei Polstern über dem Kopf ­geschlafen.
Bis heute decke ich mich beim Schlafen gern gründlich zu.

Unser Eltern ließen dich dann glücklicherweise etwas lernen. Sie schickten dich ins Petrinium nach Linz, wo du dir jenes Basiswissen angeeignet hast, das du auch in deine Godard-Biografie einfließen lassen konntest.
Im Bischöflichen Knabenseminar Petrinum, wie es wirklich hieß, nicht Petrinium, wie du und alle im Garstnertal immer gesagt haben, waren gewisse Dinge und vor allem weibliche Personen, die einen heterosexuellen Buben in diesem Alter normalerweise interessieren, mehr oder weniger abwesend. Um die leere Zeit wenigstens nicht einfach totzuschlagen, habe ich halt begonnen, viele Bücher zu lesen.

Du hast den Rat der Eltern damals nicht beherzigt: Lests nicht so viel, da werden die Augen schlecht!
Ich trage Brillen seit meinem achten Lebensjahr und bin seither Nerd. In unserer von unterkompetenten Ärzten geprägen Jugend (den grausamen Dentisten Wöss wünsche ich noch heute zum Teufel) gab es auch den Augenarzt Dr. Pilar in Kirchdorf, der mich vier Stunden in einen dunklen Raum gesetzt hat, wo irgendwelche Tropfen wirken sollten. Was er damit bezweckte, weiß ich nicht, aber unsere Mutter war damals noch nicht so energisch wie Mütter heute, dass sie den Arzt deswegen zur Rede gestellt und gefragt hätte, wohin das führen soll.

Wohin hat es geführt?
Ich hab mich existenziell verloren gefühlt in dieser dunklen Kammer. Und ich war nervös.

Du bist dann jedes Wochenende, wenn du nach Hause durftest, mit einem neuen Karl-May-Band, ­später mit dem „profil“ oder dem „Time Magazine“ in der Hand aus dem Zug gestiegen.
Meine Bildungsgeschichte nahm drei Anläufe. Begonnen hat es damit, dass wir den neuen Rasen unserer Nachbarin, der Islingbäuerin, zusammen mit ihren Kindern Emmerich und Rosi sowie den Humpl-Buben Siegi und Robert und den Eggl-Buben Walter und Willi von Steinen und Geröll gesäubert haben, wofür sie uns nicht nur Bier und Kracherl und Wurstjause gegeben hat, sondern sogar Geld.

Ich glaube, es war ein sogenannter „Grüner“, wie sie immer sagte, also ein Hundert-Schilling-Schein …
Genau. Und davon habe ich mir den ersten Karl-May-Band gekauft, „Unter Geiern“ in der Tosa-­Verlag-Ausgabe. Die waren nicht ganz billig.

Du hattest sie dann alle?
Ich bin dann später auf die originalen grünen Bände des Karl-May-Verlags umgestiegen, kam aber nie bis zu Band 74. Denn das zweite Mal hat meine Lesegeschichte Fahrt aufgenommen, als ich mir das Reclam-Heftl „Das Fräulein von Scuderi“ von E. T. A. Hoffmann gekauft habe. Das war der Schritt von Karl May zur „richtigen“ Literatur, damit habe ich „Fünf Freunde“, Winnetou, Silberpfeil und Professors Zwillinge hinter mir gelassen. Und mit 15 hat mich der Geografielehrer im Petrinum, ein cooler Typ, zum ­Zeitungleser gemacht, denn für den war das „profil“ Unterrichtsmaterial.

Und die Welt in dem engen Tal, in dem wir aufgewachsen sind, wurde dir zu klein? Du bist Städter ­geworden, wenn auch zunächst nur Linzer.
Die Welt unseres von Bergen so herrlich umgebenen Dorfes ist für mich bis heute nicht zu klein, die bleibt immer mein Kosmos. Linz war aber vergleichsweise eine wilde und große Zeit damals mit Bands wie Willi Warma, Miss Mollies Favorites, Austria Knochenschau, mit der Gründung des „Posthofs“, dem „Café Landgraf“ in Urfahr an der Linie 3. Wenn ich am Sonntag nach Linz „ausse“ gekommen bin, bin ich immer mit dem 3er zur „Biegung“ in Urfahr gefahren, dort bin ich ausgestiegen und zu Fuß „auffe“ gegangen ins Petrinum, während ich, wenn ich „owe“ gegangen bin in die Stadt, immer am „Café Landgraf“ linker Hand vorbeigegangen bin, was ein etwas cooleres Etablissement war als, sagen wir, das „Café Thallinger“ in Windischgarsten.

Wie traurig warst du immer am Sonntag, wenn du wieder „ausse“ nach Linz gefahren bist? Ich will jetzt nicht zu persönlich werden, aber für mich sind Sonntage seit deinen Abschieden bis heute die traurigsten Tage der Woche.
Ich bin immer mit einer gewissen Grundmelancholie in die Hallen des Petrinums zurückgekehrt.

Für Godard im Paris der 50er-­Jahre, wohin er damals aus der Schweiz gekommen ist, war das Diskutieren sehr wichtig. Du musstest in einem Schlafsaal mit 30 anderen Oberösterreichern schlafen, wie sehr hat das deine Lust am Diskutieren geweckt.
Also, den großen Schlafsaal, den ganz großen, habe ich nur ein Jahr mitgemacht, dafür waren es aber 40 Buben. Und wenn du das jetzt so ansprichst im Zusammenhang mit Godard, dann kann es gut sein, dass damals ein Bedürfnis nach Abgeschiedenheit in mir gewachsen ist, so wie es ja auch Godard kennt.

Unsere Mutter musste dir eine ­Erkennungsnummer in die Unterhosen nähen, damit du sie dort im Wäschehaufen findest.
Ah, stimmt! Meine Nummer war „89“! So groß war der Klassenunterschied zwischen den Mühlviertler Bauernbuben einerseits und dem Traunviertler Versicherungsvertreterbuben andererseits nicht, dass man die eigenen Unterhosen ausschließlich an Schnitt und Stoffqualität im Haufen der ­anderen erkannte hätte.

Du warst als Traunviertler ein ­Außenseiter inmitten der ganzen Mühlviertler?
Wir Traunviertler waren jedenfalls unterrepräsentiert, dafür kenne ich heute von Klaffer am Hochficht bis Putzleinsdorf alle Gemeinden im Mühlviertel zumindest beim ­Namen.

Betreut wurdet Ihr von einem ­Generalpräfekt namens …
… Sancho Wuziles, wie wir ihn nannten, aka Kurt Leitner.

Es gab damals noch die strenge Ansage?
Nein, es gab so einen gewissen ranschmeißerischen klerikalen Liberalismus, der aber im Kern verklemmt war und eben von Sancho Wuziles sehr stark vertreten wurde. Auch wenn mir seine Lebensratschläge und Glaubenshilfen ­widerstrebten, so hatte er doch eine imposante Bücherwand, wie ich auch mal eine haben wollte.

Nun sitzt du ja vor einer!
Und das ist nur die eine. Die ­zweite siehst du gar nicht.

Ihr durftet damals als Knaben­seminaristen auch hin und wieder ins Kino gehen?
Es gab in Linz das berühmte Sexkino „Eisenhand“, das ich persönlich nie aufgesucht habe, und es gab damals Filme wie „Erst 16 und schon auf vollen Touren“, aber eben auch John Carpenter zum Beispiel: „The Fog – Nebel des Grauens“. Die Kinos hießen Gloria, Lifka oder Kolosseum, das neben der Studienbibliothek lag, die ein wichtiger Ort für mich wurde. Ich sah damals auch „Fabian“ von Wolf Gremm nach Erich Kästner, von dem es ab nächster Woche auf der Berlinale ein Remake von ­Dominik Graf geben wird. Ich hab mir den alten „Fabian“ jetzt noch einmal angeschaut, auch in Hinblick auf meine Erinnerungen, denn wichtig war damals bei Filmen auch, Frauen in einem Bekleidungszustand zu erblicken, wie man sie als Knabenseminarist nie zu sehen bekam.

Unser Kino in Windischgarsten war auch ein halbes Sexkino, erinnere ich mich. Da liefen neben „Möwe Jonathan“ und „The Deer Hunter“ auch Filme mit Laura Gemser oder mit Franz Muxeneder und Rosl Mayer und im Nachtprogramm sogar Hardcore-Produktionen, von denen wir uns die Vorschau im Nachmittagsprogramm angeschaut haben.
Schräg gegenüber der Kirche, in die wir damals jeden Sonntag ­gegangen sind, war ja der Kinoschaukasten, und ich erinnere mich, dass es Filme gab mit Aushangbildern und Filme ohne. Diese Werbung mit fehlenden Bildern, die aufgrund des Jugendverbots nicht gezeigt werden durften, hatte natürlich etwas Faszinierendes, zumal, wenn man gerade noch den Pfarrer Kierner im Ohr hatte, der uns von der Kanzel herunter zu besseren Menschen machen wollte. Unser erster gemeinsamer Film war aber „Asterix in Rom“. Da war ich zwölf, du warst zehn.

Du bist mit dem gelben Rad zum Kino gefahren, ich dem grünen.
Und beide trugen wir eine kurze adidas-Hose. Die gleiche, nicht dieselbe. In Windischgarsten im Kino gab es auch immer wieder Filme, für die wir nicht gewappnet waren. Zum Beispiel ein Western mit Charles Bronson, „Chatos Land“, der eine sehr brutale Ver­gewaltigungsszene hatte, die ich nur verdrängen konnte, die mir aber zeigte, dass es noch ganz andere Sachen gab als unsere angeblich behütete Kindheit. Das Kino war fast ein kleines Gartenbaukino mit riesiger Leinwand, schönem Vorhang, Eingängen links und rechts und großem Foyer.

Und vom Vater haben wir fünf Schilling extra gekriegt, damit wir uns auch Sportgummis kaufen konnten.
Der Vater war ein fähiger Bursche und hat sein rasch wachsendes Einkommen als Rebhandl Franz von der Wiener Allianz großzügig an seine Kinder verteilt.

Richtig spannend wurde es für dich dann aber in Wien.
1983 wurde ich Student. Der Vater hat mir durch Kontakte beim ÖAAB über unseren schon deutlich kompetenteren Hausarzt Leopold Schmied einen Studentenheimplatz besorgt mit Zweierzimmer, das ich ein Jahr lang mit einem angehenden BWLer aus dem Hausruckviertel teilte. Da trafen zwei ganz unterschiedliche Interesse aufeinander: mein Zimmerkollege wollte einfach straight in einen Beruf hinein, in dem man Geld verdiente, ich hingegen habe Theologie und Deutsch ziemlich ins Blaue hinein studiert. Ich erinnere mich genau an diesen Tag, als mich der Vater „owe“ nach Wien gebracht hat …

Im Passat?
Oder schon im Santana, er fuhr ­jedenfalls immer Volkswagen. Das war Anfang Oktober 1983, ich war zum ersten Mal allein in der großen Stadt, und bin gleich ins Residenz-Kino am Anfang der Mariahilfer Straße gegangen, das es heute auch nicht mehr gibt, und habe mir „Die wilden 50er“ von Peter Zadek angeschaut. Das Alleine-­ins-Kino-Gehen hat mich von Anfang an begleitet, bis heute gehe ich bevorzugt alleine ins Kino.

Godard ging bis zu fünf Mal am Tag ins Kino, hat aber oft abgebrochen. Du schaust dir jeden Film an?
Auf Festivals kommt das manchmal vor, dass ich rausgehe, aber im Grunde schaue ich mir auch schlechtere Filme bis zum Schluss an. Godard ist ja einer, der auch keine Bücher von vorne bis hinten liest und sich Filme nur in Teilen anschaut, der gesamte Bogen interessiert ihn nie, immer nur der
Moment.

Du hast dann zwischendurch auch in einer WG mit der heutigen Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler gewohnt.
Veronica Kaup kannte ich über ­katholische Connections. Und weil wir offensichtlich ein Karma zur Wiener Stadtpolitik hatten, zog dann für ein paar Wochen auch die spätere grüne Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou ein, die blieb aber nicht lange. Die Wohnung war in der Barawitzkagasse im 19. Bezirk im Mezzanin und eine Zumutung, denn die Barawitzka geht von Heiligenstadt hinauf Richtung Hohe Warte, und die zur schon blinkenden Ampel hinauf beschleunigenden Lastwagen und anderen Vehikel waren eine Lärmbelastung ersten Ranges. Und hofseitig hatten wir Taubenscheiße.

Schwierig war dann auch, dass ich für ein paar Wochen bei dir schlafen musste, weil ich nicht wusste, wohin. Du hast damals gerade ­angefangen, für den „Standard“ Filmkritiken zu schreiben …
Willst du wirklich darüber reden? Na gut. Ich habe 1993 beim „Standard“ als freier Mitarbeiter begonnen, und das Erste, was ich als angehender Filmkritiker machte, war, dass ich mir einen Fernseher kaufte, der in dem Zimmer stand, in dem du dann geschlafen hast. Und zwar sehr lange geschlafen hast.

Sorry, dass ich dich beim Fernsehen gestört habe.
Ich musste ja beruflich fernsehen. Oder Videos schauen.

Hast du dich in den „Standard“ hineingedrängt?
Ich wurde von Claus Philipp gefragt, ob ich einen Film besprechen will, den er nicht besprechen konnte. Und aus dieser Chance habe ich dann etwas gemacht. Man konnte damals relativ schnell relativ viel schreiben, der „Standard“ war ja noch im Aufbau.

Die Spesen waren auch viel umfangreicher damals. Einmal hattest du über das „Format“ eine Wohnung am Lido, in der dankenswerterweise auch ich schlafen konnte und noch zehn andere.
Das Nachrichtenmagazin „Format“, bei dem ich auf einem produktiven beruflichen Irrweg für ein Weilchen angestellt war, schickte mich 1999 zu allen großen Filmfestivals, und die haben für Venedig so spät gebucht, dass nur noch diese sehr große, sehr teure Wohnung am Lido zu haben war, und wie du richtig sagst, sind in diesen zehn Tage viele Freunde und Bekannte aufgetaucht, u. a. der Otto Reiter, der ein bekannter Festivalier ist mit einem großen Talent, sich Unterkünfte vor Ort zu organisieren.

Dass du in diesem Beruf auch jede Menge interessanter Menschen treffen und kennenlernen würdest, wie sehr hat dich das gereizt?
Von dem Tag an, an dem ich zum ersten Mal zusammen mit der damaligen „Kurier“-Kollegin Veronika Franz in einer DC-9 nach München geflogen bin, um dort Isabel Allende zu interviewen, habe ich diesen Aspekt geschätzt. Wichtiger aber waren die Festivals, die Sommer in Locarno, wo ich 1995 auch Godard erlebt habe bei einer Podiumsdiskussion. Näher bin ich ihm persönlich nie gekommen. Da hat man das Kino noch in seiner ganzen Größe erlebt: Auf der Terrasse des Hotels Excelsior in Venedig einen ramponierten Abel Ferrara zu interviewen oder Julian Schnabel, der am Pool des Hotel Des Bains im Bademantel Interviews gab wie ein Fürst – großartig.

Wie wichtig war die Viennale?
Ich habe von 1983 bis 1993 in Wien studiert, und man konnte da eine absolut großartige Filmausbildung genießen. Da war das Stadtkino von Franz Schwartz, wo ich auch schon sehr viele Godard-Filme gesehen habe, oder Robert Kramer, Tarkowskij, Angelopoulos, das war so neu und faszinierend. Die Viennale hab ich genauer wahrgenommen ab 1991, als Werner Herzog und Wolfgang Ainberger und bald darauf Alexander Horwath sie machten. Mit Alex Horwath hat sich eine Lebensfreundschaft ergeben, er war es dann auch, der mir 2012 sagte, ich könnte eine Buch über Godard schreiben.

Findest du die Filme von Godard auch so schwer verständlich wie die meisten Leute, oder hast du dazu so viel gelesen, dass dir sein Werk ein offenes Buch ist?
Godards Filme sind genau so schwer verständlich, wie die Welt oder die Wirklichkeit oder die Weltgeschichte schwer verständlich ist. Für mich ist er der letzte große Realist.

Deine Nichte, meine Tochter, wird heuer 15. Welchen Godard-Film würdest du ihr empfehlen, den sie als ersten anschauen soll?
Meiner Nichte, dem größten Simpsons-Fan der Welt? Vielleicht ist eine Godard-Anspielung sogar mal in den Simpsons aufgetaucht? Das habe ich nie überprüft, wäre aber wichtig.

Sie wird es wissen.
Ganz sicher. Ich würde sie vielleicht fragen, ob sie sich mit mir gemeinsam was von Godard anschauen will. Am besten doch seinen ersten: „Außer Atem“, der ist ja wirklich ein Jahrhundertwerk.

Darf ich mitkommen?
Natürlich!

Nehmen wir auch die Mutter mit?
Pack sie alle zwei ein, und dann kommt ihr zu mir ins Heimkino in meiner Kreuzberger Klause.


Bert Rebhandl
wurde 1964 in Kirchdorf, OÖ, geboren und wuchs in Rading auf. Er maturierte im Linzer Knabenseminar Petrinum und studierte anschließend in Wien Germanistik und Theologie. Während des Studiums begann er, beim neu gegründeten „Standard“ als Filmkritiker zu schreiben. Seit 2000 lebt er als Universalgelehrter und Kulturjournalist in Berlin, gründete die Filmzeitschrift „CARGO“, schreibt für „FAZ“, „Standard“ und andere Medien und veröffentlichte zahlreiche Bücher. Er ist der Bruder des WIENER-Autors Manfred Rebhandl.

Foto: Zsolnay

Jean-Luc Godard
Von Bert Rebhandl

Godard wurde zum Superstar des Kinos, als 1960 „Außer Atem“ mit Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo Premiere feierte. Im Jahr ­darauf war seine Hochzeit mit Anna Karina auf den Titelseiten der Klatschblätter. Seine Filme zogen Hipster aller Art an, als diesen Begriff noch kaum jemand kannte. Ab 1968 wurde Jean-Luc Godard zum ewigen „Revolutionär des Kinos“, der bis in die Gegenwart für Aufsehen und Debatten sorgt. Bert Rebhandl fasst zum ersten Mal in deutscher Sprache Godards Leben mit seinem filmischen Werk zusammen. Eine einzigartige europäische Figur in einer lange überfälligen Gesamtdarstellung. „Eine wunderbar faktensatte neue Godard-­Biografie“ (Spiegel online).