GENUSS

Ein Pott – ein Kult

Attraktive Urlaubsregionen oder „Hinfahr-Ziele“ gibt’s viele auf der Welt. Die sind aber meist schön herausgeputzt. Wer ihr hingegen einen faszinierend-geilen Mix aus Zukunft und Vergangenheit sucht, aus Glitzer-Tech und Industriebrache, gewürzt mit dem Sex-Appeal einer verwohnten, aber unsagbar kultigen Kneipe, findet ihr etwas „tief im Westen…wo die Sonne verstaubt…“.

Foto Header: Pixabay.com © Michael Gaida

„…ist es besser, viel besser als man glaubt.“ So trällerte es Deutschlands Dauer-Barde Herbert Grönemeyer bereits anno 1984 in seiner Liebeshymne an die Stadt Bochum – ihres Zeichens Herzstadt eines Gebiets, das der größte Ballungsraum unserer nördlichen Nachbarn ist und immerhin der viertgrößte ganz Europas.

Yes, bei wem im Hinterkopf jetzt Wolfgang Petry spielt, der liegt ganz recht, natürlich sprechen wir vom Ruhrgebiet – oder Ruhrpott, oder eben ganz einfach Pott. Sicherlich nicht das erste (und vielleicht auch nicht zehnte) Ziel, das ihr im Sinn habt, wenn ihr an das „Reiseland Deutschland“ denkt. Dennoch: der Pott ist Kult und sich ihn mal anzuschauen, kann sich wirklich lohnen. Die Gründe? Zeigen wir jetzt.

Es ist keine normale Urlaubsregion
Lübeck, Rothenburg ob der Tauber, Osnabrück… Es gibt in Deutschland mehr als eine Handvoll Städte, die ob ihrer historischen Stadtkerne weltweit gefeiert werden. Andere Ecken werden immerhin wegen ihrer Landschaft gern besucht.

Im Ruhrgebiet gibt es – Trommelwirbel – weder noch. Als Deutschlands Industrieherz wurde das Areal im Krieg kurz und klein gebombt und danach mit Zweckbauten wiedererrichtet. Mittelalterliches sucht man hier vergebens Auch in Sachen Landschaft gibt es zwischen Rhein, Ruhr und Lippe keine wirklichen Traumziele.

Genau das ist es jedoch: Der Pott ist eigentlich die totale Anti-Urlaubsregion – und gerade deswegen ziemlich genial. Klar gibt’s hier auch Touristen, aber angesichts der Fläche wirklich nicht viele. Hier lässt sich deshalb noch etwas Pures, Unverfälschtes erleben. Eine Region, die irgendwie in einer längst untergegangenen Montan-Vergangenheit verhaftet ist, aber ebenso irgendwie auch dauernd in die Zukunft greift. Kann man schwer beschreiben, muss man erlebt haben.

Die vielleicht letzte echte Kneipenkultur auf dem Kontinent
Berlin platzt (wenn nicht gerade Pandemien die Welt heimsuchen) seit Jahren vor lauter Junggesellenabschieden aus allen Nähten; auf der Insel gehören die meisten Pubs längst im Hintergrund zu einigen wenigen Franchise-Ketten; an vielen anderen Orten sind die Kneipen (wenn sie nicht gestorben sind) längst zu glattpolierten, hellen und für die ganze Familie offenen Orten mit arg hohen Bierpreisen verkommen und sind ständig auf der Suche, noch hipper, noch trendiger zu werden.

In diesem Sinne ist der Ruhrpott vielleicht Europas letzte Bastion. Nicht falsch verstehen, auch da wurden viele Kneipen geschlossen, wurden umgebaut, weil eben „freitach nache Schicht“ nicht mehr zehntausende Kohlekumpel und sonstige Malocher erst mal den Durst löschen wollen.

Dennoch gibt es hier noch die echten Eckkneipen. Die, in denen es keine zwei Dutzend Cocktails auf der Karte gibt und in denen der Wirt zumindest so aussieht, als wäre er sein bester Stammgast. Vielleicht gibt es zwischen Duisburg und Oberhausen, Dortmund, Hamm und Hagen die letzten oldschooligen Kneipen einer aussterbenden Rasse. Zumindest aber dürfte es sie nirgendwo sonst in so großer Dichte und Zahl geben.
Und selbst wo die Kneipen zu sind, gibt es immer noch nicht minder kultige Kioske, Buden, Trinkhallen zuhauf.

Die lockeren Leute
Es ist schon lange her, dass deutsche Kaiser Menschen aus weiter östlich liegenden Ländern anwarben, damit irgendwer an der Ruhr die Kohle aus der Erde holte. Aber einmal abgesehen davon, dass auch heute noch viele Pottbewohner-Nachnamen deshalb auf -ski enden, sorgte das für etwas anderes: Das Gebiet wurde zum ersten kulturellen Schmelztiegel Deutschlands und blieb es bis heute.

Dann kam die für viele knochenharte Arbeit hinzu, dann das Sterben der Montanindustrie und schließlich der schmerzhafte wirtschaftliche Wandel zu einer Dienstleistungsregion.

Fast könnte man meinen, dass sich das irgendwie in die kollektive Ruhr-Seele gebrannt hat. Unzweifelhaft führte es aber dazu, dass die meisten Menschen hier Gemeinschaftsgefühl pflegen und dabei unsagbar locker drauf sind – ungeachtet des Alters. Das gilt auch für das schöne Geschlecht, von den Girls in Dortmund und anderen Ruhrstädten sagt man nicht umsonst, dass sie das Herz am rechten Fleck tragen, aber dennoch etwas Vergnügen nicht abgeneigt sind. Die meisten Leute bewerten hier ihr Gegenüber nur nach Charakter. Und wer cool ist, sich nicht als was Besseres fühlt und gibt, kommt gut an – egal woher er kommt und was er spricht. Apropos:

Der. Ruhrpott. Slang.
Unterschiedlichste Mundarten gibt’s bei uns und gibt’s in Deutschland. Und was im Pott gesprochen wird, ist sicher nicht die geschliffenste Mundart der deutschen Sprache. Aber wenn für einen solchen Sprachzweig jemals die Bezeichnung stimmte „das Herz auf der Zunge tragen“, dann beim Ruhrdeutsch.

„Kannze ma nache Omma gehn?“

„Hol mich vonne Zeche, ich muss inn Gaatn“

„Samstach machmama die Kottletschmiede an, wa?!“

„Bitte nicht am Bär packen“ (stand so dem Vernehmen nach tatsächlich in den 80ern auf einem Schild in einem Ruhrgebiets-Zoo)

Ruhrdeutsch ist einfach anders als alles andere. Nicht nur, weil mitten durch den Pott zwei Dialektgebiete verlaufen und sich vermengen, sondern weil dieser Schmelztiegel dafür sorgte, dass über die Jahrhunderte rotwelsche, französische, slawische, jiddische und nicht zuletzt technische Begriffe in die Alltagssprache einsickerten.

Das Ergebnis ist eine Mundart, die leider (wie überall) immer weniger junge Menschen richtig beherrschen, die man aber nicht zuletzt wegen ihrer krassen Worterfindungskreativität selbst in modernisierter, verdünnter Form lieben muss – wo sonst könnten Begriffe wie Koteletteschmiede, Pommes-Schranke, Fitzelken oder Pimpernellen entstehen?

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Fußball für immer und ewig
Es ist lange her, dass der Ruhrpott die vielleicht größte Dichte von fußballerischer Weltelite beherbergte. Es ist außerdem wahr, dass (aktuell) nur noch der Dortmunder BVB in der Ersten Bundesliga spielt, während die großen Namen wie Schalke, Bochum, Duisburg, Oberhausen, Essen, Wattenscheid und Konsorten längst in die unteren Ligen gerutscht sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass Fußball im Pott an Bedeutung verloren hätte. Über ein Dutzend Großstädte auf einer Fläche, die nur etwas größer als das Burgenland ist, darin aber über fünf Millionen Menschen beherbergt, ist einfach die berühmte „Hausnummer“.

Der Sport gehört hier zum Leben zahlloser Menschen so sehr dazu wie das Mittagessen, ist gleichzeitig verbindendes wie trennendes Element. Wie viele Fußballvereine es im Pott insgesamt gibt, weiß wohl höchstens der Deutsche Fußballbund. Klar ist aber, dass irgendwo immer irgendwann gerade ein Ball rollt und zumindest ein paar hundert Einheimische jubelnd am Spielfeldrand stehen. Einmal abgesehen davon: Wenn selbst die ständig auf Relevanzkriterien bedachte deutschsprachige Wikipedia dem Pott-Fußball einen eigenen Artikel widmet und ihm sogar höchste Exzellenz-Weihen gibt, sollte das Beweis genug sein.

Zusammengefasst
Ihr wollt mal eine Ecke dieser Welt bereisen, die einfach völlig anders ist als alles, was ihr bislang kanntet? Dann benötigt ihr keinen Flieger, sondern nur ein Auto. Fahrt ein paar Stunden nach Nordwesten. Wenn ihr den Emscherschnellweg erreicht habt, seid ihr da.