AKUT

Was war, wie’s wird

Heidi List

Ächz, langer Winter irgendwie, oder? Um die Lebenszeit betrogen. Andererseits: Man sollte sich ja die Geschichten so er­zählen, dass sie gut sind. Weil es ist nicht alles schlecht. Oder ­umgekehrt: Vieles ist geradezu fantastisch.

Zum Beispiel die Sache mit diesen zehn Kilo mehr auf der Waage als noch vor einem Jahr. Man könnte bei der entwürdigenden Nachfrage der Bekannten, ob man jetzt, in dem Alter, noch eine Kind gebaut habe, sagen: Ja. Super, was? Oder: Nein, das ist die Schilddrüse. Oder aber man sagt, wie es ist, nämlich dass man nach etwa 1.500 Weizenmehl-Pandemie-Pala­tschinken mit extra nachge­zuckerter Marillenmarmelade einfach so fett ist wie noch nie. Außerdem waren die Fitnessstudios zu, also nicht dass man hingegangen wäre. Aber. Und die Kinder waren dauernd daheim, deren herumliegende Schoko­laden auch wer wegräumen musste. Überhaupt: Die Schwimmbäder waren auch zu, man musste also mit keinerlei annehmbarer Bikinifigur glänzen. Der Einzige, der was sagen hätte können, wäre der Badezimmerspiegel gewesen, aber der hielt schön brav seine schillernde Fresse, er gibt sich mit allem zufrieden. Guter Kerl. Und: Kilos sind gut für die Nerven (= der fantastische Part).

Ja, es geht mittlerweile sehr gut, das Schöndenken von Gegebenheiten. Früher habe ich mir gedacht, oje, die Kinder verkümmern intellektuell, weil sie am Freitag für „Climate Justice“ ­demonstrieren gegangen sind. Heute denke ich wehmütig an die Zeiten, als sie gemeinsam mit anderen Kindern Arm in Arm an der frischen Luft waren. Sie sprechen dafür fließend Englisch vor lauter YouTube Schauen – so gut hätten sie’s in der Schule nie gelehrt bekommen. Überhaupt, auch innerfamiliär hätte man sich nie so gut und ausgiebig kennengelernt in einem normalen Alltag in einer virenfreien Welt. Nach vielen Monaten des Aufeinanderpickens kann ich mit Fug und Recht behaupten: Ich habe Kinder gehabt. Aber wirklich. Und Apropos: Das Grauen vor neun Wochen Sommerferien ist auch weg. Haupt­sache, kein Distance-Learning. Keine mühseligen Planungen, wann man wohin fahren muss, um niemanden zu beleidigen, denn es gibt wirklich viele Einladungen aus aller Welt, und Meer muss dabei sein und Alpen müssen auch dabei sein. Alles egal. Heuer ist man froh, dass es die Donau gibt. Man wird dort auf einem Handtuch liegen, immer an der gleichen Stelle, unter einem Baum, und dankbar sein dafür, dassman nicht in der Wohnung sitzen muss, um Leben zu retten. Freiheit.

Was noch? Man hat sich Duzende Treffen erspart, auf die man nicht scharf war. Und man war viel zuhause und hat die Katze zu oft gefüttert. Die ist mittlerweile so fett, dass sie nicht mehr auf die Bäume kommt, um Vogelnester aus­zuräumen. Sollte sie mit einem nach Hause kommt, dann kann er ihr nur bereits verstorbenenweise auf den Schädel gefallen sein.

Zu guter Letzt kann man mit Fug und Recht behaupten, man hätte während der Pandemie seine Jugend wiedergefunden. Denn irgendwann ist er da gewesen, wer Tag, an dem man sich proseccotrinkend vor „Fit mit Philipp“, dem Turnmann im Fernsehen, wiedergefunden hat. Bei jeder Kniebeuge einen Schluck. Er sagte ja: „Nicht vergessen, viel trinken, denn jede Zelle muss schwimmen.“ Also Prost. Ist doch eine gute Zeit. Jetzt geht’s wieder los, das Leben, manches wird sich einpendeln, die Katze wird seltener gefüttert und schafft es vielleicht wieder zu den Vögeln hinauf. Die ­Kinder werden ein wenig vom Gamingvokabular einzubüßen haben, die neu angeschafften Räder werden die Kilos dahinraffen, sodass man die Pala­tschinken nicht gar so ansetzt. Sie wird vorbei sein, die ganz traurige Zeit. Das ist nicht nix.


Heidi List
Wenn sie nicht liest oder Musik hört, arbeitet die zweifache ­Mutter selbstständig als Kommunikationsmanagerin und freie Autorin.