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Nine Eleven, der Türstock und das Motiv

Franz J. Sauer

20 Jahre nach dem Tag, der als „Nine Eleven“ in die Geschichte einging, erinnert wenig an die Zeit vor den verheerenden Anschlägen, die 3000 Menschen unmittelbar töteten, das Leben von Milliarden anderen Menschen auf dem Planeten allerdings nachhaltig veränderte. Nicht unbedingt zum Guten hin.

Von Franz J. Sauer

Sie wurden sicherlich auch schon einmal gefragt, wo sie waren, als damals gegen 15h Ortszeit zwei Flugzeuge in die beiden Türme des New Yorker WTC krachten und rund eine Stunde später mit den beiden Hochhäusern exakt das einstürzte, woran man sich nach knapp 12 Jahren langsam als friedvollste Epoche seit dem zweiten Weltkrieg gewöhnt hatte.

Diese Einschätzung des Jahrzehntes der 1990er, nach dem Fall des Eisernen Vorhanges also, der die Geopolitik erschütterte und veränderte, wie wenige Ereignisse zuvor, ist natürlich stark vereinfacht bis naiv. So ging genau da mit dem Jugoslawienkrieg etwa im unmittelbaren Vorgarten Österreichs und mitten Europa eines der blutigsten Ereignisse der Nachkriegszeit unrühmlich über die Bühne. Und obwohl irgendeine Art von Frieden im Nahen Osten zeitweise zum Greifen nahe schien, ging der Dauerkonflikt in Arabien spätestens mit dem Mordanschlag auf Jitzhak Rabin am 4. November 1995 in eine seiner vielen, nächsten Runden.

US-Präsident Bill Clinton, von vielen als jener US-Präsident verhöhnt, der erstmals mehr mit Kriegen im eigenen Schlafzimmer als mit jenen irgendwo auf der Welt zu kämpfen hatte, löste mit einigen isolierten Militärschlägen auf vereinzelte Terrorzellen vielleicht erst jenes „Vorglühen“ aus, das sich vorerst in den Ereignissen vom 11. September 2001 markant entlud. Und die erste Schreckensherrschaft der Taliban in der zweiten Hälfte der Neuziger Jahre wird womöglich auch nicht von allen Afghanen als ruhige Epoche ihres Lebens in Erinnerung bleiben.

Trotzdem – im höchstpersönlichen Empfinden eines Wiener Journalisten brachte Nine Eleven die größte Zensur im politischen Sicherheitsempfinden oder aber dem Irrglauben, eine Menschheit könnte ohne größere, kriegerische Auseinandersetzungen glücklich bestehen.

Nine Eleven und der Türstock

Es folgten, in für meinen Geschmack viel zu schneller Abfolge, Einsturz eins, Einsturz zwei, Pentagon, Weisses Haus (später als Fehlermeldung entschärft, wie einige andere Ereignisse auch) und der Absturz bei Pittsburgh. Ich hatte mich gerade daran gewöhnt, dass man sich vor Kriegen weltumspannenden Ausmaßes wohl nicht mehr zu fürchten bräuchte. Spürte spätestens ab der Meldung mit dem Pentagon ein massiv ungutes Gefühl. Und wurde von meiner Mitarbeiterin, kurz nachdem kundgetan wurde, dass der Präsident George W. Bush an Bord der Air Forca One in Begleitung von Jagdflugzeugen an einen unbekannten, aber sicheren Ort gebracht werde und die übrigen US-Regierungsmitglieder in einen Bunker verbracht worden waren, mit einer seltsamen Frage konfrontiert: „Warum stehst Du im Türstock?“

Robert J Fisch / Wikipedia, Creative Commons

Einige Jahre zuvor war ich in ein Erdbebengebiet gereist. Und war, für den Fall der Fälle, darüber unterrichtet worden, dass während die Erde bebt der sicherste Ort in einem wackelnden Haus der Türstock sei, aufgrund seiner naturgegebenen Stabilität. Unbewußt hatte ich mich nun unter dem Eindruck der auf uns alle hereinprasselnden, völlig aus dem Blauen stammenden, Meldungen über einsetzende Kriegshandlungen (Angriffe, Explosionen, Regierungen, die in Sicherheit gebracht werden) damit abgefunden, dass gerade eben, live und direkt im TV, ein Weltkrieg ausbräche. Also in weiterer Folge bald auch bei uns „die Erde beben“ würde. Und mich daher unbewußt und sicherheitshalber in den Türstock gestellt hatte.

Nine Eleven: Alles wurde anders.

Wie man heute weiß: So schlimm kam es dann doch nicht, zumindest nicht bei uns. Bis heute wurden keine Kampfflugzeuge über dem österreichischen Himmel gesichtet, nicht mal die eigenen, weil deren Betrieb ja bekanntlich zu teuer ist. Trotzdem bedeutete Nineeleven eine unfassbare Zäsur für die Welt und das Sicherheitsempfinden der darauf befindlichen Menschen. Und zwar gleich in mehreren Punkten:

  • Es war spätestens ab dem Eindringen des zweiten Flugzeuges klar, dass die USA (nebst NATO und anderen Verbündeten) auf diesen unvorstellbaren Angriff reagieren würden müssen. Mit starker Hand und ungeheurem Stahlgewitter. Verdächtige hatte man schließlich schnell ermittelt, also war auch die Blickrichtung, wohin sich der erste Zorn entladen würde, schnell ausgemacht: Afghanistan, Middle East, Irak.
  • Das bis dahin gefühlt einzementierte, individuelle Bedürfnis von in der freien, westlichen Welt lebenden Menschen nach Schutz ihrer Privatsphäre und weitgehender Autonomie gegenüber jeder Art von staatlichem Sicherheitsapparat, wurde mit einem Schlag ausgehebelt. Der Staat, und zwar der ehrlich demokratische, sah sich von einer Sekunde auf die andere gezwungen, den Schutz der Privatsphäre dem Kampf gegen den Terrorismus zu opfern.
  • Die eigenwillige Auslegung dessen, wozu der Kampf gegen den Terrorismus „die Guten“ ermächtigen würde, aber auch die stille Duldung derartiger Aktivitäten durch alle Verbündeten, trieb bald nun bekannte, düstere Blüten.
  • Guantanamo, Folterungen, jahrelange Inhaftierungen ohne Anklage oder Prozess und – bis heute – die Verfolgung von Aktivisten und Journalisten, die derlei Verfehlungen von Regierungen und deren Behörden aufzeigten und anklagten; All das waren bis zum 10.9.2001 Dinge, die man etwa von mittelafrikanischen Potentaten oder sonstigen Schurkenregimen mit hochdekorierten Diktatoren auf dem Präsidententhron erwartet hätte – nicht aber von den USA und „Dem Westen“.
  • Schließlich nahm auch das Verhältnis zwischen den USA, dem Westen und Russland indirekt durch Nine Eleven jenen Schaden, der zu einer bis heute rotierenden, stetigen Abwärtsspirale der Beziehungen führte.

Nine Eleven und Russland

Dauerherrscher Wladimir Putin war bekanntlich schon im September 2001 Russlands Staatschef. Und war gerade intensiv damit beschäftigt, die etwas turbulent durchsurften Neunzigerjahre seiner Einfluss-Sphäre (sprich: Die ehemalige UdSSR) nachhaltig aufzuräumen. Auch er hatte bereits – Stichwort Tschetschenien, Stichwort Aserbaidschan – mit islamistisch motiviertem Terror zu tun gehabt, auch er kannte um die lauernden Gefahren derartig nichtstaatlich-organisierter, dezentraler Machtstrukturen Bescheid.

Und last but not least: Putin suchte nach Partnerschaft mit dem Westen. Wollte am Stammtisch der neuen Weltordnung einen gleichwertigen Part zugewiesen bekommen, dem großen und einst mächtigen, nun etwas zerlemperten und nicht mehr ganz ernst genommenen Russland wieder einen international bedeutsamen Stellenwert geben. Insofern war es kein Zufall, dass Putin als einer der ersten Staatschefs noch am 11. September 2001 vor die TV-Kameras trat und vollmundig seine vollste Unterstützung des ehemaligen Klassenfeindes im Kampf gegen den Terrorismus anbot.

Der Westen im allgemeinen und die USA im speziellen dankten höflich, aber sagten ab. Mehr sogar: Gaben sich nachhaltig verschnupft darob, dass Putin die zunächst geplante Umarmung Russlands durch die NATO folgerichtig ablehnte. Die Message war klar: Man könne auf die Hilfe von Russland verzichten. Dass man damit einem wie Wladimir Putin etwas zu vorschnell die Tür ins „gemeinsam Wirtshaus“ zuschlug, wurde später klar. Dann würde Putin seine Agenda halt ohne den Westen fortführen. Notfalls auch in Opposition zu ihm.

Nine Eleven, 15h59

Es ist nun eine Minute vor vier, 20 Jahre danach. Der erste Turm des World Trade Centers war exakt um diese Zeit eingestürzt, kerzengerade in sich zusammengesackt, wie bei einer kontrollierten Sprengung: Der Nukleus zahlreicher Verschwörungstheorien um den damaligen Angriff auf die USA, von wegen False Flag Operation, Staatsstreich und so weiter.

Die Frage nach dem Motiv der Täter, jener allerwichtigsten Frage also, ohne der, wie wir aus dem Sonntags-Tatort wissen, kein Kriminalkommissar seine Ermittlungen weiterführen würde, blieb allerdings bis vor wenigen Wochen aus. Bis dahin hatte nämlich all das Gsturl, das nach dem 11.9.2001 in Gang gesetzt wurde, den mutmaßlichen Verschwörern – Al Kaida und den unterstützenden Taliban – am allerwenigsten genutzt. Nun sind die Taliban wieder an der Macht in Afghanistan. Geben sich moderat, verständnisvoll, als verlässliche, internationale Partner. Und finden möglicherweise just dort Unterstützung, wo seinerzeit potentielle Verbündete im Kampf gegen sie hochmütig zurückgewiesen wurden: in China und Russland. So gesehen haben die Verschwörer letztlich ja vielleicht doch gewonnen.

Ich geh jetzt jedenfalls einkaufen. Und meide jeden Fernseher. Wer weiß auf welche Ideen manche Leute auf der bösen, weiten Welt kommen, wenn sie sehen, was alles doch ganz gut funktioniert, wenn man nur lange genug auf seine Erfolge warten kann.