AKUT

… und schuld bist Du!

Christian Jandrisits

Schuld – wer ernsthaft bereut, etwas Bestimmtes getan zu haben und dafür geradestehen möchte, tut gut daran, sich zu entschuldigen. Mit dem zeitgeistigen Trend, für alles und jedes um Verzeihung gebeten werden zu wollen, hat das allerdings wenig zu tun. Da geht es um ganz was anderes.

Text: Franz J. Sauer (Chefredakteur)

Fast wäre ich einem fatalen sprachlichen Irrtum aufgesessen. Auf Titelsuche für diese Geschichte hier wollte ich ein Wort finden, das kurz und prägnant ein weitverbreitetes Symptom des aktuellen Zeitgeistes auf den Punkt bringt: Jenes, sich für alles und jedes oder zumindest für sehr, sehr vieles regelmäßig entschuldigen zu sollen. Schnell landete ich beim Wort „Schuldkult“ und hätte damit, weil in rechtsradikalen Begriffswelten nicht besonders firm, fett in den Gatsch gegriffen. Mir war null bewusst gewesen, dass das Wort „Schuldkult“ längst vom Neo­nazi-Milieu und deren Schallverstärkern vereinnahmt wurde. Es steht, speziell unter Deutschen Rechtsextremen und Neuen Rechten für die „übertriebene Erinnerungskultur zu den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands, besonders das Gedenken an den Holocaust. Dieser politische Kampfbegriff ist Teil eines Geschichtsrevisionismus, der die deutsche Verantwortung für die NS-Verbrechen und deren Folgen abwehrt, abwertet, leugnet oder verharmlost.“, weiß Wikpedia. Au weia. Da hat der WIENER schon für weitaus weniger was aufs Maul bekommen.

… gefangen im Netz der toxischen Männlichkeit

Zum Beispiel beim Cover­thema der vorvorigen Ausgabe „Gefangen im Netz der toxischen Männlichkeit“. Eine Gruppe deutscher Feministinnen, ­allesamt im Netzwerk der groß­artigen Inge Bell – die in der Story fundiert zu Wort kam – ver­sam­melt, mokierte sich via So­cial Media über die schreckliche Bildauswahl, mit der wir das ernste und wichtige Thema illustriert hatten. Wunder­schöne Bilder der Fotografin Irene Schaur, welche das tsche­chiche Model Ddomini in einer Netzstrumpfhose „gefangen“ zeigten (1), wurden als „Porno-Sklaven-Fotos“ und schlimmeres missinterpretiert. Man ­fühle sich vom WIENER „dazu genötigt, diese schrecklichen Bilder ansehen zu müssen“, hieß es lautstark auf Social Media und man forderte umgehend eine Entschuldigung dafür, in Threads, Postings und Direktnachrichten. So weit so Shitstorm, kennt man ja.

… und schuld bist DU!

Regelrechte Verwunderung, Entrüstung, ja, gar Entsetzen setzte allerdings erst ein, als wir replizierten, keinerlei Grund für eine Entschuldigung zu sehen, weil wir uns bei der Bebilderung schließlich etwas gedacht hatten. Da ging es dann erst richtig los. Nun wurde nicht nur auf die Redaktion losgegangen, sondern auch gleich das „WIENER-Social Media Team“ angegriffen, weil es sich herausnimmt, „auch noch frech zurückzuschreiben“. Dass ich als Autor der Story mein Fett weg bekam, liegt sowieso auf der Hand, „noch ist Zeit, sich zu entschuldigen.“ wurde auch mir in unterschiedlich freundlicher Form per PM ausgerichtet und damit gleichzeitig klar gemacht, dass eine andere Antwort, als „Es tut mir leid!“  gar nicht in Frage komme. 

Aufforderung zur sexuellen Belästigung … echt jetzt!?

Nächstes Heft, nächster Fall. Ein kleines Grüppchen von Facebook-Postern, interessanterweise übrigens nicht aus dem ­typischen Le­ser­kreis des WIENER, sahen in einem aus der Sommerausgabe herausfotografierten und solcherart vorzüglich aus dem Story-Zusammenhang gerissenen Clip zum Thema FKK eine „Aufforderung zur Sexuellen Belästigung“. De Facto stammte der Textbaustein aus einem eindeutig und unschwer als satirisch zu verstehenden Artikel mit „Tipps für den Sommer, nach dem jeweiligen Beziehungsstatus geordnet (2)“ – von vorne bis hinten unernst und durchgeblödelt. Obwohl man anstelle eines Fotos auch die gegenständliche Geschichte verlinken hätte können, war das Veranstalten eines sommerlichen „Shitstörmchens“ natürlich lustiger. Und wieder hagelte es Aufforderungen zur sofortigen „Entschuldigung“, wieder fragten wir zurück: Wofür eigentlich? Und – bei wem?

Der Trend zur Entschuldigung, oder genauer, zum „um Verzeihung gebeten werden wollen“ ist eindeutig en vogue. Allerdings nicht in seiner Urfunktion, irgendwelchen Unbill wieder gut zu machen und idealerweise aus der Welt zu schaffen, sondern einer wichtigen Funktion verlustigt: Wenn ich wem vergebe, also die von ihm geforderte Entschuldigung annehme, muss der Casus Belli damit aus der Welt geschafft sein. Heutzutage hat die Aufforderung an jemandem, sich für etwas zu entschuldigen, zumeist eine ganz andere Funktion: Nämlich den derart Inkriminierten in die Defensive zu drängen. Und ihn im schlimmsten, oder, je nach Sichtweise, besten Fall aus dem Rennen zu nehmen. 

Böser Hund, Böser!!!

In Zeiten ausufernder Kommunikation beschleunigt durch Social Media und Co ist es ziemlich einfach, aus einmal Gesagtem, Getanem oder Geschriebenem irgendwas entschul-
digungswertes heraus zu destillieren. Besonders, wenn man dabei subjektive Betrachtungsweisen anwenden kann. Ein Beispiel: Irgendein Comedian macht im Fernsehen Witze über Dicke, ich leide aus gesundheitlichen Gründen unter Adipositas und fühle mich deshalb angegriffen. Und anstatt es bei einem „Voitrottl“ Richtung Fernseher zu belassen und weiterzuzappen, werde ich mich anno social media mit Wonne am Comedian rächen, weil ich es kann. Hier der bewährte, kampferprobte Vier-Punkte-Plan:

DER 4-PUNKTE PLAN

1., Dass der nämliche Komiker mich persönlich weder kennt noch gemeint haben kann, spielt keine Rolle, weil wir flugs das Schlagwort „Fatshaming“aus der Lade mit den tonnenschwer aufgeladenen Begrifflichkeiten holen. Damit geht es ab sofort nicht mehr nur um mich, sondern um alle Menschen, die dem gängigen Schönheitsbild nicht entsprechen, dafür regelmäßig gemobbt werden, darob wiederum psychische Erkrankungen erleiden und so weiter und so fort. Je dramatischer, desto gut. 

2., Nun fordere ich über alle mir zur Verfügung stehenden Kanäle eine Entschuldigung ein und lasse dabei natürlich auch Menschen, von denen der Comedian irgendwie abhängig ist, meinen Unmut wissen, per Hashtag oder sonstwie socialmedial.

3.,  Die Sache kommt ins Rollen, auch abseits des Internets, irgendein Boulevardmedium hievt den Elektrogossip in die Print­realität und wenn der erste Promi darum gebeten wird, einen Kommentar dazu abzusenfen, tun es ihm alle übrigen via Social Media gleich, was wiederum alle, alle, alle anderen, die sich gelegentlich ein Speckröllchen zu viel oder auch zu wenig anzüchten, auf den Plan ruft, sich zu ­äußern. Eine völlig nebensächliche Chose gewinnt an Reichweite, geht, wie es so schön heißt, viral. Und sobald 

4., der Comedian, seine Auftraggeber sowie in weiterer Folge auch der Medienkanal, über den seine inkriminierte Aussage ausgestrahlt wurde, dem öffentlichen Druck nachgeben und sich für den Vorfall entschuldigen – ja, dann hab ich sie erst so richtig am Sack.

Zurück zu Konkreterem: Hätte ich nun tatsächlich unbedacht „Schuldkult“ über jene Story hier geschrieben, es wäre zu Recht von mir eine Entschuldigung und vom WIENER eine Distanzierung gefordert worden, ganz einfach, weil man von Journalisten erwarten kann, Worte, die sie als Headline benutzen, auf ihre tatsächliche Bedeutung abzuklopfen. Allerdings – wäre der Fall mit einer ernstgemeinten Entschuldigung nebst Schuldeingeständnis für uns erledigt gewesen? Oder wäre der WIENER für immer als Rechtsradikalen-Postille verschrien? 

… fast fett in den Gatsch gegriffen!!!

All dies erklärt ganz anschaulich, warum sich Unternehmen jedweder Größe neuerdings so sehr vor dem Schreckgespenst „Shitstorm“ fürchten und der wütende, mit Social Media Lautsprechern ermächtigte Kunde, zum schlimmeren Feind werden kann, als, sagen wir mal, ein weitreichender Maschinenausfall. Ausgeklügelste Notfallpläne liegen in den SM-Departments der Firmen bereit, wie man sich zu verhalten habe, wenn sich jemand unwohl fühlt, mit oder ohne objektiv ersichtlichem oder aber sogar subjektiv berechtigtem Grund, ist völlig nebensächlich. Und als erstes wird sich mal entschuldigt.

Stellt sich die Frage: Kann man sich überhaupt selbst ENTSCHULDigen? Oder muss man um Verzeihung bitten, also eine Handlung vom mutmaßlich Geschädigten verlangen, die dieser natürlich nicht tätigen muss? Dieser kleine, feine Unterschied wird vor allem dann schlagend, wenn sich Politiker oder andere, hohe Repräsentanten für etwas entschuldigen (müssen). Meinen sie es ernst? Oder wollen sie die Sache doch nur schnell und ohne Aufsehen aus der Welt schaffen? 

Wir sind nicht bei der Freiwilligen Feuerwehr Süd-Giesing, sondern beim FC Bayern München!

Bayern-Trainer Nagelsmann

„Wir sind nicht bei der Freiwilligen Feuerwehr Süd-Giesing, sondern beim FC Bayern München“: Nach dem Ärger, den Bayern-Trainer Nagelsmann für diesen Spruch bekam, fuhr er zur Feuerwehr, im Gepäck ein FC Bayern-Trikot mit der Rückennummer 112, und entschuldigte sich auf für seine Wortwahl.

Er hat damit etwas Schlaues und Wirksames getan: die aktive Wiedergutmachung. Eine Tat, die den Willen zur Entschädigung bekundet, eine aktive Form der Bußehandlung. Das ist der tiefere Sinn hinter all den Pralinenschachteln, Blumensträußen oder Schnapsrunden, die vielleicht auch Sie schon für Missetaten aufgebracht haben. Nur wäre gut, wenn Sie sich damit nicht freikaufen wollen.“(3)  

So fasst der deutsche Coach Christian Thiele die Wirkungsweise des „Buße tuns“ zusammen, wobei vor allem der letzte Satz wichtig ist. Im genannten Beispiel handelte es sich um den Feuerwehr-Vergleich von Nagelsmann, der ihm zweifellos im nachhinein leid tat, weil er ihn im Affekt gebracht hatte, ohne überhaupt an die Feuerwehr zu denken. So gesehen fußt seine (coole) Reaktion auf Überzeugung und geht in Ordnung. Wer sich allerdings gar nicht entschuldigen will, sondern dies nur aufgrund von äußerem Druck tut, weiß entweder um die Verwerflichkeit des Gesagten, Getanen, Geschriebenen und möchte die Sache schnell aus der Welt haben, sich also „entschulden“; Oder aber er steht dazu, was er gesagt, getan oder geschrieben hat, auch wenn darob nun Vorwürfe und Entschuldigungsaufforderungen auf ihn einprasseln – dann sollte er sich auch nicht entschuldigen. Und schon gar nicht um Verzeihung bitten. 

… die Schuldursache

Jede Entschuldigung, egal ob ehrlich oder nicht, bedingt zunächst einer Schuldursache, die man für den zu ahndenden Verstoß ins Treffen führen kann. Und je undifferenzierter, unkonkreter und daher generalisierbarer diese ist, desto universeller anwendbar ist sie, mit beliebig skalierbarer, manipulativer Kraft. Thema Klimaschutz: Wer lieber in einem Haus am Land wohnt, trägt mit seinem Egoismus zur Zersiedelung und zur Versiegelung der Böden bei, wer gerne autofährt, zerstört das Leben kommender Generationen. So weit das Narrativ, weit weg vom jeweiligen Einzelfall konstatiert. Anstelle lästige Studien inklusive nicht unwichtiger, globaler Zusammenhänge zur Untermauerung dieser Ansichten zu zitieren, zieht man lieber die Schuldkarte – was logischerweise jede andere Reaktion, als um Verzeihung zu bitten, in moralischer Hinsicht ausschließt und jede relativierende Diskussion beendet. Oder in der Weltpolitik: Wer als einzigen Weg zur Lösung des Ukraine-Konfliktes die fortschreitende Bewaffnung der Ukraine sieht, muss dies nicht mit wirtschaftlichen oder militärischen Erwägungen argumentieren, wenn es doch viel einfacher per Schuld-Narrativ funktioniert, das da lautet: Weil man dereinst Geschäfte mit Putin machte, ist man nunmehr zumindest mitschuld daran, dass es zu diesem Krieg kam und hat nun  die moralische Verpflichtung, Waffen zu liefern. Angenehmer Nebeneffekt dieser Kommunikationsform: Man muss sich nicht nur nicht mit lästigen Gegenstimmen auseinandersetzen, man genießt auch die rechtschaffene Gewißheit, selbst auf der guten Seite der Moral zu stehen.

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Was im großen, weiten Weltgeschehen funktioniert, klappt auch im Kleinen ganz gut. Wir als Österreichs einziges Männermagazin gelten allein deshalb schon als sexistisch, toxisch und frauenfeindlich, ein konkreter Anlass ist da nicht zwingend von Nöten, weil, „Was erwartest Du Dir von einem Männermagazin?“ Dass sich der WIENER seit jeher als Verbündeter der Frauen sieht, was ein Blick ins Archiv der letzten 43 Jahre schnell beweist – geschenkt. Gar nicht wenige Typen haben nun aber die schlaue Strategie entwickelt, die Welle der kollektiven Männerschuld einfach mit-abzusurfen, um nicht ins Kreuzfeuer zu geraten. Früher hieß es unter anbandlungswilligen Jungs folgerichtig: „Wer vögeln will muss nett sein.“, heute reicht scheinbar schon: „Wer vögeln will, muss sich entschuldigen.“ Echt jetzt? Mitmänner, wacht auf! Wenn Ihr eh auch klarerweise und logisch gegen Femizide und Gewalt gegen, aber für die bedingungslose Gleichberechtigung von Frauen seid, dann tut etwas mehr dafür, als Euch vorsorglich die Eier abzuschneiden. Steht den Frauen zur Seite, kämpft mit ihnen und verliert Euch nicht in sinnlosem Gefloskel, auch wenn es einfach geht.  

Ein bisschen
mehr Galileo
Galilei würde
der heutigen
Zeit ganz gut
tun …

„Und sie bewegt sich doch!“ hat Galileo Galilei bekanntlich nie so gesagt, als ihn die Heilige Inquisition 1633 dazu zwang, seine Thesen zum heliozentrischen Weltbild öffentlich zu widerrufen. Trotzdem würde der heutigen Zeit etwas mehr Galilei gut tun: Steh zu dem was Du sagst, tust und anstellst. Dann musst Du Dich dafür auch nicht entschuldigen. Selbst wenn es alle von Dir verlangen.  

● (1) wiener-online.at/2022/04/05/das-netz-der-toxischen-maenner • (2) wiener-online.at/2022/ 07/18/sommer-in-wien • (3) deutschlandfunk­kultur.de/sorry-richtige-etschuldigung-wirkung-­100.html