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Kleine Lügen, große Enttäuschungen und der blonde Schütze-Boy

Christian Jandrisits

Götz Schrage war bis vor Kurzem exklusiv am Zweirad unterwegs. Nach einem Unfall hat er als Spätberufener den B-Schein gemacht. Die Ärzte meinen, es gäbe keinerlei Folgeschäden nach dem Unfall. Wir von der Redaktion sind uns da nicht so sicher. Hier seine WIENER Winter-Kolumne 22/23 *Kleine Lügen, große Enttäuschungen und der blonde Schütze-Boy*

Wir leben in einer Zeit der Lügen und damit komme ich immer weniger klar. Der Schein ist alles! Anstand und Ehre gelten als toxisch und sind nur im Weg. Nicht einmal wir Benzinbrüder halten zusammen. Als Letzte Ritter des Verbrenners zum Aussterben verdammt und anstatt uns im Widerstand zu organisieren, versuchen wir uns über den Tisch zu ziehen. Kürzlich fuhr ich fast vierhundert Kilometer, um dann vor der absoluten Leiche zu stehen. Der Verkäufer und ich hatten vorher oft telefoniert und ich mochte ihn. Wir hatten erkannt, dass wir die selbe Leidenschaft teilen. Er hatte mir versichert, dass er sich freut, wenn sein Oldtimer-Juwel in gute Hände kommt. Ich hatte meine Tabus erwähnt, in der Kurzfassung: Massiver Rost an substantiellen Teilen und verbastelte Motoren. Er hat mir dann gute Fahrt gewünscht und beinahe hätte ich mit so einem doofes Herzchen plus Daumen nach oben geantwortet. 

Wie ich dann dort war, stand ich vor einer kaum geschönten Leiche. Die Karikatur eines Oldtimers. Rostig bis über die Ohren. Man hätte sich mit einem  ungespitzten Teelöffel durch den Rahmen nach oben graben können. Der Motor verbastelt als wie, weil irgendein Idiot versucht hatte, aus einem vierzig Jahre alten Auto zwanzig PS mehr rauszuholen. Schon alleine dafür sollte man den Jungen einsperren. Am besten zusammen mit ein paar verpeilten Klimaklebern in eine Zelle. Apropos Zelle, am Liebsten hätte ich dem Verkäufer ein paar hinter die Ohren gegeben, nur nicht ganz unzufällig waren da noch zwei Kampfhunde und seine Freundin (und vor der Freundin habe ich mich mehr gefürchtet). Abgesehen davon bin ich in der Provinz immer sehr vorsichtig mit Gewalt. Erinnere mich an meine Jugend – da hatten sie einen festgenommenen Eierdieb siebzehn Tage im Gemeindekotter vergessen. Immerhin gehe ich zumindest meinen Lesern ab und würde früher gefunden werden.

Aber warum lügen die Menschen so in Annoncen? Warum versprechen sie ein rostfreies und fahrtüchtiges Gefährt, wenn man dann in Realität vor eine Rostlaube steht, die die Afrikaner vom Schiffe kippen würden? Ich habe dieses Problem nicht. Ich schalte keine Annoncen. Ein wenig bossy könnte ich anmerken, weil ich nur kaufe und niemals verkaufe – solange mich der WIENER so fürstlich entlohnt bleibe ich auch dabei. Ein einziges Mal habe ich mich persönlich angeboten. Fast fünfzig Jahre ist das jetzt her: 

„Blonder Schütze-Boy (14), sucht auf diesem Wege  eine Brieffreundin. Hobbys: BRAVO lesen, Garry Glitter, Lena Zavaroni und Deep Purple. Ich bin in einem Detektivklub und spiele gerne Fußball. Bitte schreibe mir unbedingt mit Bild. Ich antworte garantiert. Meine Adresse: Götz Schrage, XXXXXXXXXX X, XXXX XXXX.“

Alle persönlichen Angaben haben den Tatsachen entsprochen. Nicht so wie bei Tinder heute, wo alle irgendwas schreiben. Wobei das habe ich nur so gehört. Selbstverständlich bin ich niemals bei Tinder gewesen oder ähnlichen Plattformen. Ganz einfach, nach meinem Aufruf im „BRAVO“ bekam ich so unendlich viel Post und seitdem gibt es eine Warteliste. Durchgehend seitdem ich vierzehn Jahre alt  war ich keinen Tag ein unfreiwilliger Single. Und das verdanke ich meinem Dasein als lebenslanger blonder Schütze-Boy. 

Unter Umständen habe ich bei den garantierten Antworten ein wenig geschlampt. Ich konnte das einfach nicht alles bewältigen. Es kamen einfach zu viele Briefe. Manche waren parfümiert und kein einziges Kuvert war weiß. Daran erinnere ich mich noch. Die meisten hatten florale Muster in allen zarten Farben der Welt. Oft lag ein Rückkuvert bei schon mit aufgeklebter 50 Pfennigmarke. Das hat mich dann ein wenig unter Druck gesetzt und das mochte ich schon damals nicht. Abgesehen davon, und jetzt wende ich mich an die jüngeren Leser, es gab zwischen Anschluss und EU eine Zeit, da hatten wir in Österreich eine eigene Währung und Deutschland hatte auch seine eigene. Mit deutschen Briefmarken konnte man gar nichts anfangen. Die konnte man höchstens in sein Briefmarkenalbum packen und das habe ich dann auch gemacht. 

Jedenfalls sonst ist mein Herz rein und ich wäre froh, wären meine ethischen Standards die der privaten Gebrauchtwagenverkäufer. Aber die Leidenschaft wird mich weiter auf der Straße halten. Gleich diese Woche habe ich zwei Besichtigungen von wahren Schätzen und wenn Sie sich dann im Kreis Ihrer Liebsten die Gutscheine im Kreis schenken, sitze ich hoffentlich mit zwei Tannenzweigen in meiner Garage und begrüße meinen neuen Oldtimer. Mehr will ich jetzt noch nicht verraten. 

PS: Wünsche alles Gute im neuen Jahr. Und als Service für meine zahlreichen deutschen Leserinnen, sollten Sie zu denen gehören, die mir 1975 geschrieben haben samt einem frankierten Kuvert, möchte ich mich entschuldigen und biete Ihnen eine verzinste Refundierung Ihrer Auslagen an. Bitte schicken Sie ihre Unterlagen dazu an den WIENER, Kennwort: „Blonder ­Schütze-Boy (61)“.