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DER JÜDISCHE BLUES

Christian Jandrisits

(Aus dem WIENER Archiv/Nummer 07/Juli 1980) Es gibt nämlich gute jüdische Musiker im Osten. Dieser Beruf ist erblich. Einzelne Musiker bringen es zu hohem Ansehen und zu einem Ruhm, der ein paar Meilen über ihre Heimatstadt hinausreicht. Einen größeren Ehrgeiz haben die echten Musiker nicht. Sie komponieren Melodien, die sie, ohne von Noten eine Ahnung zu haben, ihren Söhnen vererben und manchmal großen Teilen des ostjüdischen Volkes. Sie sind die Komponisten der Volkslieder. Wenn sie gestorben sind, erzählt man noch fünfzig Jahre lang Anekdoten aus ihrem Leben. Bald ist ihr Name verschollen und ihre Melodien werden gesungen und wandern allmählich durch die Welt.

Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft

Zwei junge Wiener Juden begaben sich auf die Suche nach ihrer Identität und landen sie im kulturellen Erbe des aus Osteuropa in den Donauraum eingewanderten Judentums. Geduldig und Thimann, wie sich Edek Bartz und Albert Misak nach den Mädchennamen Ihrer Mütter nennen, fanden dabei eine Kostbarkeit, die langsam und unaufhaltsam drohte, in Vergessenheit zu geraten. Was vor fünfzig Jahren in Wien noch das Bild der Stadt prägte, das ist heute bestenfalls noch sentimentale Erinnerung der Überlebenden. Die Jiddische Kultur, ein komplexes Weltbild von Religiosität. Lebensweisheiten, Sitten, Gebräuche und Philosophie in seiner musikalischen und literarischen Ausprägung, ist mit den Juden aus Wien verjagt und ausgerottet worden. Die wenigen, die überlebt haben und an Ihrer Tradition festhielten, leben im sozialen Ghetto, nicht einmal neugierig beäugt, sondern einfach ignoriert- Geduldig und Thimann sind wie gute Fahrtensucher auf die Reise nach ihrer eigenen Geschichte gegangen und sie haben Lieder gefunden, die aus dem Alltag ihrer Eltern- und Großelterngeneration stammen. Der Rat an Kinder, sich in der Jugend ausgelassen zu vergnügen, weil man schnell genug alt wird, ist ein gutes Beispiel dafür „Hulet Kinderlach“, heißt das Lied jiddisch.

„Spielt Euch, liebe Kinder, versäumt keinen Augenblick, nehmt mich mit herein in Euer Spiel, vergönnt mir auch das Glück.
Vergnügt Euch, liebe Kinder, solange Ihr noch jung seid, denn vom Frühling bis zum Winter, ist es nur ein Katzensprung.“

DER JÜDISCHE BLUES – Faksimile – Aus dem WIENER Archiv/Nummer 07/Juli 1980

Dieses Lied ist eine Ausnahme: Es hat einen Verfasser, den Tischler Mordechai Gebirtig. Er konnte keine Noten lesen, die Lieder, die er erfand, wurden nie aufgeschrieben, sie wurden ausschließlich durch Vorsingen und Nachspielen überliefert. Gebirtig starb 1942 im Krakauer Ghetto, wo er sein ergreifendstes Lied. „Es brennt“, sang. Nur wenige Kilometer von Krakau entfernt liegt Auschwitz, das übergroße Symbol des Massenmordes, der zum Vergessen führte.

Auschwitz – das ist das schwarze Loch in der Vergangenheit. In der von Geduldig und Thimann, in der ihrer Kultur und auch in der unserer Zivilisation. Die zwei Wiener, Pfadfinder durch die Verbrechen der Geschichte schlagen eine Brücke über diesen Abgrund. Sie knüpfen die zerfetzten Verbindungen neu, auch als Sicherheitsstricke gegen die Vorurteile und die Unmenschlichkeit dieser Stadt. Es ist zum Beispiel die trübe Ahnung und die duldende Kraft, die in einem Schlaflied liegt, was Anteil nehmen lässt- Es heißt „Ojfn Pripetschok“, auf dem großen Kachelofen, dem Zentrum der ostjüdischen Familien, und mahnt zum fleißigen Studium der Thora, die allein die Kraft spenden kann, die zum Überleben notwendig ist:

„Weil auch ihr Kinder werdet euch durch die Diaspora schleppen, und ihr werdet zermürbt sein.
Darum sollt ihr aus der Schrift Kraft schöpfen. Schaut sie euch nur gut an!“ 

Denn die Juden haben ihre Kultur durch die Jahrhunderte getragen und sie immer wieder unbeschadet vor der Verfolgung gerettet. Erst den Nazis war es gelungen, mit den Menschen auch ihre Tradition, ihre Geschichte und ihr Denken zu vernichten. Die beiden Wiener Volkssänger sind also nicht nur Pioniere, sie sind Restauratoren, Archivare und Impulsgeber: Sie rufen in Erinnerung und animieren gleichzeitig damit die Geschichten und Gleichnisse. Die jiddische Logik und in ihrem Zentrum die Vaterfigur des Rabbiners geben dazu den Meditationsstoff ab. „Kum aher du filosof“ heißt ein anderes Lied. Es erzählt von einem Prahlhans, der mit Dampfschiff und Luftballon kolossale Abenteuer bestehen will, während der Rebbe still an seinem Tisch sitzt und ohne großen Aufwand durch die weite Welt seiner Weisheit reist.

Der jüdische Blues …

Die Authentizität, nach der Geduldig und Thimann gesucht haben, liegt nicht in der klanggetreuen Wiedergabe. Sie liegt in der Atmosphäre, der Kraft und dem Lebensgefühl, das in den Liedern steckt. Das ist ein unzerbrechlicher, starker Optimismus, der selbst in der Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit nach positiven Reststücken sucht. Es ist in vielem auch ein österreichisches Lebensgefühl, herübergerettet aus den letzten Jahren der Monarchie und aus dem pulsierenden Wien der Zwischenkriegszeit. Damals waren es viele jüdische Österreicher, die dem Land ein kulturelles Gesicht gaben. Ihre moralischen Wertvorstellungen, die eines Joseph Roth etwa, sind es, die sich komprimiert und aufs Wesentliche reduziert in den Liedern wiederfinden. Selbst in den textlosen „Niguns“. Das sind die Lieder der frommen Juden, der Chassidim, die rituellen Charakter besitzen und oft endlos weitergesungen werden. Eine Mischung aus Mediation, Gebet und Feier. Die „Niguns“ sind für fromme Juden der stärkste Ausdruck ihres Selbstgefühls und ihrer Kultur.

Der Nigun, sagt Edek, das ist der jüdische Blues.

Wenn Ihn ein Chassid singt, dann ist sein Herz ganz weit offen, dann wird alles Glück wahr, das eine erbarmungslose Welt dem orthodoxen Juden vorenthält. Es wird zum Kraftzentrum seiner Existenz. Und wie schmächtig und hilflos, verglichen mit dieser Kraft, Energie und Zuversicht, werden die wütenden Horden alter und neuer Nazis. In Ihrer Wolfsgesellschaft können sie morden, daß es die Welt nicht für möglich hielte, wieviel Blut und Leid vergossen werden kann. Doch sie können nicht ausrotten, was im tiefsten Inneren eines chassidischen Rabbiners triumphiert, der seinen Nigun singt. Und Rabbiner, die gute Nigun-Sänger sind, stehen besonders hoch im Ansehen. Ihre Ekstase und ihre Weisheit, ihr tiefes Judentum und ihr tiefer Glaube erheben sie in den Adelsstand. Manche von ihnen wurden so hochgeschätzt, daß sie wie Prinzen in ihrer Gemeinde lebten.

Faksimile – Aus dem WIENER Archiv/Nummer 07/Juli 1980 – COVER

Davon erzählt ein weiteres Lied. Seid still, heißt es darin, der Rebbe geht tanzen, und wenn er den heiligen Nigun singt, dann bleibt selbst der Teufel tot am Boden liegen.

Die beinahe vergessenen Lieder haben Geduldig und Thimann in der kleinen jüdischen Gemeinde in Wien gelernt. 1964 hatten sie eines der ersten Österreichischen Folk-Rock-Ensembles gebildet, die „Sabres“, und bei Hochzeiten und religiösen Feiern aufgespielt. Bei der Rekonstruktion der ursprünglichen Spielart war ihnen Arrangeur Teddy Windholz behilflich: Mühsam und sorgfältig wurde die Basismelodie so gestaltet, daß die wichtigsten Instrumente, Klarinette, Geige und Akkordeon, Stimmung und Atmosphäre wiedergeben. Die Atmosphäre ihrer Lieder, sagen sie, soll die sein, die auch beim Betrachten der Bilder Marc Chagalls entsteht.