AKUT

Trödeln, bis der Arzt kommt

Sarah Wetzlmayr

Die österreichische Regierung will sich bessern. Schon bald. An der Universität Münster gibt es eine Prokrastinationsambulanz. Dort wird Menschen geholfen, die vor lauter Aufschieben zu gar nichts mehr kommen. Das Wort Ambulanz ist in diesem Zusammenhang vielleicht schlecht gewählt, weil es nach Soforthilfe im äußersten Notfall klingt und Prokrastinierer für gewöhnlich eben nicht in Eile sind. Aber die Existenz dieser Einrichtung beweist jedenfalls, dass es sich bei der Symptomatik nicht um eine Charakterschwäche, sondern um ein anerkanntes Leiden handelt. Man darf niemanden deshalb verspotten. Wir halten das an dieser Stelle ausdrücklich fest, weil es in Österreich schon die eine oder andere böse Bemerkung in diese Richtung gab. Aber dazu später.

In der Münsteraner Prokrastinationsambulanz checkt ein Expertenteam das Krankheitsbild und bietet den Patienten Therapievorschläge. Angeblich hilft es, wenn sich Betroffene realistische Ziele setzen und die eigenen Arbeitsgewohnheiten neu strukturieren. Klingt leichter, als es ist. Selbst dazu muss man sich ja erst einmal aufraffen. Pathologische Rumtrödler wissen, dass der erste Schritt immer der mühsamste ist. Allerdings dicht gefolgt vom zweiten und vom dritten. Relativ leicht ist eigentlich nur die Ankündigung, total bald ordentlich loszulegen. „Aber morgen fang ich wirklich an“ lautet folgerichtig auch der Titel eines Beitrags auf der Veröffentlichungsliste der Uni Münster. Erst wenn der Ankündigung Taten folgen, können der Betroffene und sein geplagtes Umfeld auf Genesung hoffen. Rückfälle sind allerdings immer möglich, genau wie beim Rauchen oder Nägelbeißen. Das Nicht-in-die-Gänge-Kommen wird auch deshalb so leicht chronisch, weil es oft jahrelang folgenlos bleibt. Prokrastinierern erwächst aus ihrem Defekt kein automatischer Nachteil. Mit etwas Talent schaffen sie es mitunter eine Zeit lang, ihre Inaktivität als Beweis für Verlässlichkeit und eine ruhige Hand zu vermarkten. Womit wir wieder in Österreich wären. Einen der medizinisch interessantesten Fälle gab es nämlich jahrelang in der heimischen Politik zu besichtigen. Die Kabinette Faymann I und II werden für die Prokrastinationsforschung eines Tages vielleicht einen ähnlichen Stellenwert haben wie die berühmte Patientin Anna O. in der Geschichte der Psychoanalyse.

Am Wiener Ballhausplatz und in den umliegenden Ministerien wurde derart gekonnt verzögert, dass man beim Zuschauen gelegentlich den Eindruck gewinnen konnte, die Zeit sei stehen geblieben. Während der gewöhnliche Zauderer schon ein schlechtes Gewissen hat, wenn er wichtige Dinge einige Stunden oder Tage vor sich herschiebt, kalkulierte die österreichische Regierung ihre Verspätungen mindestens in Jahren. Was nicht eine oder besser zwei Legislaturperioden lang in irgendeiner Arbeitsgruppe abgehangen war, galt als keinesfalls beschlussfähig. Erst wenn sich eine dicke Staubschicht über die Aktendeckel gelegt hatte, pflegte man zur Tat zu schreiten – und die Zettelsammlung wieder einmal ordentlich abzuwischen, damit sie im Regal nicht schmutzt. Der Zufall wollte es, dass schon diverse Vorgängerregierungen ihre Aktivitäten unter das urösterreichische Motto „Nur net hudeln“ gestellt hatten. In der Rubrik „Unerledigtes“ finden sich deshalb geradezu prähistorische Schätze: Seit Jahrzehnten wird, nur zum Beispiel, äußerst ergebnisarm über eine Bildungsreform debattiert. Wenn es im selben Tempo weitergeht, werden die Volksschüler von heute selber glückliche Eltern geworden sein, bevor sich da was bewegt. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern sollte bereits vor einem Vierteljahrhundert neu geregelt werden. Das zu diesem Zweck geschlossene „Perchtoldsdorfer Abkommen“ trägt den Stempel von 1992. Seither vergilbt es im Archiv. Immerhin schon fünf Jahre ist es her, seit der Rechnungshof 599 Sparvorschläge für die Regierung präsentierte. Es handelte sich bereits um den dritten Anlauf der tapferen Erbsenzähler vom Amt. Sämtliche Listen blieben weitgehend folgenlos. Sogar an Nebenfronten wurde hart gearbeitet, ohne vom Fleck zu kommen.

Mit dem absurden Text des österreichischen Mietrechtsgesetzes etwa könnte man ein Kabarettprogramm bestreiten. Jeder weiß das; keiner bringt die Kraft auf, es zu ändern. Spott und Hohn sind, wie gesagt, völlig fehl am Platz. Die Opposition im Parlament, die Journalisten und die Bürger müssten wirklich mehr Verständnis aufbringen. Wir reden hier über ein komplexes psychisches Problem. Die Prokrastinationsambulanz Münster nennt als Gründe für das chronische Herumwursteln unter anderem Schwierigkeiten bei der Prioritätensetzung und panische Angst vor Versagen. Im Fall der österreichischen Bundesregierung kommen noch störrische Beamtengewerkschafter, renitente Landeshauptleute und die Last des Wiedergewähltwerdenwollens hinzu. Das kann man verstehen, irgendwie. Und jetzt wird sowieso alles anders. Christian Kern, der neue Bundeskanzler, hat den Stillstand in der Republik wortreich kritisiert. Gemeinsam mit Vizekanzler Reinhold Mitterlehner gelobte er Besserung. Wann es losgehen wird? Nicht sofort, aber bald. Versprochen!