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Es werde Sex

Es brodelt im Netzwerk, Sex ist wieder ein Thema. Tja, nicht mal die menschliche Natur lässt sich auf Dauer mittelfingern. Aber wie soll die Sache funktionieren?

Text: Manfred Sax / Foto: Regine Koth-Afzelius, Bearbeitung: Verlag

Previously im Netzwerk. „Als Neunundsechzig oder 69 wird eine sexuelle Stellung bezeichnet, bei der beide Partner einander gleichzeitig oral stimulieren“, begann da einer seinen Status zum Tag. Exquisit explizit. „Sexuelle Stellung“, „oral stimulieren“ – gepflegtes Bornemandeutsch(1), gute Gesellschaft. Übersetzung, für Borneman-Nichtkenner: Der Mann steht vermutlich auf Lecken und Blasen und hat es etwas eilig. Stell dir vor, Beethovens Neunte beginnt mit der Ode an die Freude. Er ist jedenfalls gut drauf, er bleibt auch beim nächsten verbalen Erguss thematisch inbrünstig fixiert. In einem einzigen Satz die Worte Vulva, Schamlippen, Klitoris (Borneman-Speak für „der Bub im Boot“), Penis, Hodensack, Mund, Lippen, Zunge und Zähne unterzubringen … allerhand. Da hat sich was gestaut zwischen seinen Ohren im Laufe der Wochen.

Der Mann ist nicht allein. Ein paar Blöcke weiter die nächste Bekannte, bei der sich was gestaut hat, wenn auch nicht zwischen den Ohren. Um es diskret anzudeuten: Alle Wege führen zu drei Buchstaben, die nicht Rom sind. Einen Clip später die nächste Umwerfende: „Ich bin beim dritten Glas Wein und eine de­primierende Schlagzeile davon entfernt, Nacktbilder auf Insta zu posten.“ Auf Twitter ein An­laberer: „Wenn dich das Virus nicht umlegt, darf ich es?“

Kein Zweifel, es brodelt im Netz. Die gepflegte Zurückhaltung in fleischlichen Belangen kommt zunehmend entblättert ­rüber, im internationalen Verkehr sogar per Hashtag #hornyonmain ausgewiesen – sinngemäß in etwa „geil im gesellschaftlichen Schaufenster“. Soll heißen, dass auf Plattformen, wo sonst Belangsmeldungen der Marke „Heut ess ich ein Schnitzel, man gönnt sich ja sonst nix“ dominieren, das Psychoklima umgeschlagen hat. Du weißt, dass was im Busch ist, wenn eine ansonsten fast ärgerlich diskrete Frau nun plötzlich über Arschficken zu philosophieren beginnt. Vielleicht ist auch nichts im Busch, vielleicht ist genau das ein Problem. Und apropos Busch: „Glaubst du, dass Schamhaare nach der Quarantäne ein Comeback feiern werden?“, fragt da einer, unzeitgemäß optimistisch, dass wir uns im Sommer kraft des Lockdown-bedingten Verfalls der Fellpflege einer ­„triumphalen Rückkehr des 1970er-Busches“ erfreuen werden.

Jeder Zeit ihre Themen. Schön, dass Sex wieder wesentlich wird, die Natur – auch die menschliche – lässt sich eben auf Dauer nicht mittelfingern. Aber worauf dürfen wir uns freuen? Es gibt Prognosen. Im Winter gibt’s wahrscheinlich einen Babyboom, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht werden sich stattdessen alle Paare scheiden lassen, vielleicht auch nicht. Immerhin können wir bis auf Weiteres nicht fremdgehen, außer, wir können. Ist aber letztlich egal, wir werden ohnehin nie wieder Sex haben, vielleicht aber doch. Und was ist mit den Singles, die müssten sexuell topfit sein, der Rekordboom am Planet Porno kommt nicht von ungefähr; sieht die Welt einem Fickfest entgegen?

Immerhin, wir reden darüber. Aber wie gehen wir es an? Wie dürfen wir es angehen? Antworten werden wir sicher kriegen, siehe US-Experte Anthony Fauci auf die Anfrage, ob man tindern dürfe: „Das ist relativ riskant; wer es tun will, macht es auf eigene Gefahr.“ Unglaublich, worüber die Obrigkeit informieren darf. Manchmal hast du das Gefühl, der entsprechende Minister steht schon vor deinem Schlafzimmer. Dort, wo im Laptop am Kästchen der vernunftpanische Influencer parkt. Der wird sich das Thema nicht entgehen lassen, er muss Rat geben, weil er so verdammt vernünftig ist. Vernunft und Sex, immer schon eine geile Paarung. Seine Kollegin, die Influencerin, ist bereits drauf: brav warten, bis es erlaubt ist, sagt sie. Keine Handshakes beim Date, im Restaurant hat seine Gabel auf ihrem Teller nichts zu suchen. Küssen sei sowieso nicht drin. Das seien die neuen Regeln. Herzig. Als ob sich der Sexualtrieb je um Regeln geschert hätte. Also: Irgendwann ist Tipping Point, dann geschieht seinesgleichen.

Es wird Sex sein, somit zurück zum 69er-Fan von oben. Er weiß, wie es geht. Die Partner liegen zum Zwecke übereinander oder auf die Seite gedreht, „sodass das Gesicht des einen Partners den Genitalien des anderen zugewandt ist.“ Dann wird anständig gemeinsam „oral stimuliert und liebkost“, an sich ein Vorspiel, sagt er, aber unzeitgemäße Bescherung nicht auszuschließen.

Hier muss ich einhaken, Stichwort „stimulieren“. Da steckt sexhistorisch viel dahinter. Zum Beispiel die „Stimulus-Response-­Theorie“ bzw. das Reiz-Reaktions-Modell aus grauer wissenschaftlicher Vorzeit. Es hat mal funktioniert. Es hat in der Werbung funktioniert, es funktionierte bei der Konditionierung des Pawlow’schen Hundes(2), es funktionierte vorübergehend im Sex, nämlich anno sexuelle Revolution (1960er ff.), als Girls und Boys ähnlich drauf waren, nämlich neugierig auf das, worüber niemand informierte, den Borneman las kein junger Mensch. Man musste selber forschen, das war eine Zeitlang wirklich cool, nur kamen dann die Hämmer – Sexismus, Alice Schwarzer, Aids und so weiter. Heute ist da auch noch der toxische Mann, ist die Beziehungswelt gespickt mit Vorurteilen und Hürden – stimulieren ist nicht immer Stimulanz, die Theorie dazu veraltet. Du kannst stimulieren, wie du willst, wenn sich dein Girl gestern in einen anderen verknallt hat, wird sie heute auf deinen Reiz anders ­reagieren als noch vorgestern. Empfehlenswert, sich die Sache mal mittels des verhaltensökonomischen Modells von Nobelpreisträger Daniel Kahneman(3) zu ­betrachten; ein Denkmodell, das von schnellem und langsamem Denken ausgeht. Langsames Denken ist weitgehend von Vernunft geprägt, schnelles Denken von Instinkt, von Emotionen; letzteres also der Hort für nette sexuelle Gestaltung, wären da nicht unliebsame Mitbewohner wie etwa Angst plus diverses vom langsamen Vernunftdenken etabliertes Rotlicht, von vorbeugendem Misstrauen, das gesunde ­Reaktion kompliziert. Anders ­gesagt: Es gibt kein Zurück zur Normalität, auch im Sex nicht, aber es gibt einen Weg zur besser funktionierenden Liebhaberei: Priorität Frau – das Hintanstellen eigener Problemchen (kleiner Penis? So what?) zugunsten der prospektiven Göttin. Es gibt Dinge, ohne die Sex nicht funktioniert, allen voran seine Empathie, ihr Vertrauen, schließlich „Consent“ (Zusage, Einverständnis). Ihre Vernunft muss auf Grünlicht schalten, damit die richtigen Emotionen fließen, die horizon­tale Lage Sinn macht. Der Rest beginnt mit Cunnilingus, da liegt der eingangs erwähnte Mann ziemlich richtig. Und wer weiß? Vielleicht wird noch ein 69er draus.

(1) Ernest Borneman (1915 – 1995), Verfasser von „Lexikon der Liebe & Sexualität“, München 1968.
(2) de.wikipedia.org/wiki/Klassische_Konditionierung
(3) de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Kahneman