AKUT
Ich bin jetzt mal weg!
Meanwhile in Winchester: Was tun, wenn das Pub zu hat und Stricken der neue Sex ist und du das Gefühl hast, dein Pornogirl zu betrügen, wenn du mit deiner Frau das Kissen teilst? Dann ist es time to get busy: Walfang statt Lockdown.
Text: Manfred Sax, Fotos: Billy Sax-Dixon
Zum Beispiel Bargeld. Es ist noch nicht lange her, da gingst du in den Cornershop nebenan und holtest dir den Tabak, und wenn du mit Karte zahlen wolltest, kam der Kassier mit „hast du kein Cash?“ retour. Heute geht beim Shopping mit Bargeld gar nichts, so absolut nichts, dass du habituell nur noch bargeldlos unterwegs bist. Dann landest du beim Dealer, nämlich nur mit Karte, und der blickt dich blöd an. Der Dealer, den du aufgrund medizinischer Zwecke nun mal brauchst, ist heute der einzige Mensch, der weiterhin auf Cash besteht. Seltsame Welt, man darf sich wundern.
Zukunft? Welche Zukunft?
Genau das hatte Zukunftsforscher Matthias Horx vergangenen Frühling prophezeit. „Wir werden uns wundern“, meinte er in seinem vielbeachteten Aufsatz „Die Welt nach Corona“, wo er ein Bild entwarf, wie es im Herbst – also jetzt – aussehen wird: „Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fußballspielen eine ganz andere Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien gab. Wir wundern uns, warum das so ist.“
Stimmt einerseits, es gibt derzeit keine Massenausschreitungen. Aber wen wundert es, es gibt ja nicht mal Massen, die Tribünen sind leer. Im Mutterland des Fußballs ist das ein Drama, und in meiner Wahlheimatstadt Winchester ganz besonders. Sie ist so klein wie Wels, aber die reichste Stadt der Insel, getragen von gehobener Middle Class und weitgehend kulturbefreit. Ohne Fußball hätte ich mit meinem bodenständigen besten Freund – Glen, dem ehrlichen Fleischhauer – fast nichts zu quatschen.
Als ich hier sesshaft wurde, war das nicht abzusehen.
Unser Member of Parliament, zum Beispiel, hieß Stephen Milligan, das heißt, er ging gerade weg, als ich kam. Er hatte sich aufgehängt, in Reizwäsche. Ein bedauerlicher Fall von „autoerotischer Asphyxiation“, heißt es heute bei Wiki. Aber nach den ersten Nächten im Pub war ich bereits klüger. Es war Milligans finale Performance, wusste man dort, ein bewusster Mittelfinger des Abschieds. Merke: Es sind nie die Fakten, sondern immer die besseren Storys, die letztlich überleben. Ich war recht schnell verliebt in diese Stadt.
Merke: Es sind nie die Fakten, sondern immer die besseren Storys, die letztlich überleben.
Mein Pub ist „das Alfred“ (The King Alfred Pub), eine Art verlängertes Wohnzimmer. Ich war dort schnell en vogue, wegen der England-Spiele. Die Bude voll, die Fans im Öl, und wenn sie auf „It’s just like watching Brazil“ allzu überschwänglich werden, brauchen sie einen wie mich, der „Yeah, like Alan Brazil“ sagt, der war nun wirklich ein lausiger Kicker. Aber die wichtigste Person im Pub ist noch immer die Frau an den Zapfhähnen, das Bargirl Amy; eines jener humanen Prozacs, die du brauchst, wenn die Zeiten im Arsch sind. Der ihre ist übrigens großartig, nur sagen wir hier nicht „Arse“ oder „Ass“, wir sagen „Bottom“, in meiner Stadt wird alles verniedlicht. Aber ein kleiner, selbstverständlich verstohlener Blick reicht, und du fühlst dich besser, den Feelgood-Hormonen sei Dank.
Und ausgerechnet jetzt, wo du dein Pub brauchst wie noch nie, ist es geschlossen. Da hört sich der Spaß auf. Jetzt ist Homeoffice, in meinem Haus gibt es davon derzeit vier, und du gehst runter ins gemeinsame Wohnzimmer, wo die Gnädigste „The Crown“ konsumiert, was sonst? Da fällt dir ein, ach ja, Diana, die wurde doch mal so kontrovers von Martin Bashir interviewt, der wohnt eh gleich um die Ecke, ebenso wie sein damaliger BBC-Boss Mark Byford. Also fragst du die Gnädigste, schreibt man Byford hinten mit oder ohne „e“, und das ist leider genau eine Frage zu viel. Du willst doch hoffentlich nicht über Byford schreiben, sagt sie, und du dann: warum nicht? Well, der Byford ist doch jetzt Kanon der Winchester Cathedral, sagt sie, und halt wirklich noch immer „best buddy“ von Bashir und letzterer wiederum gut Freund mit Alex und Debra, deren Sohn mit unserem Sohn und so weiter. Also keine Story, Nachbarn sind eine geschützte Spezies, keine öffentliche Schmutzwäsche, please, Gutmenschlichkeit angesagt. Alles erträglich, solange das Pub offen hat; Aber jetzt ist Lockdown.
Bei derlei Szenarien fällt mir gern die Comicfigur Popeye ein. „Wenn du auf Erden ständig nur gut bist“, hieß es mal auf seiner Sprechblase, „damit du im Himmel einen netten Platz reserviert kriegst, bist du ein Egoist. Die einzige Belohnung, die du verdienst, weil du das Richtige machst, ist im Bett.“ Aber sag das mal deiner Gnädigsten. Kennst du das, wenn bei deiner Langzeit-Beziehung plötzlich einsetzt, was du bei deiner Mutter immer mit liebevollem Humor quittiert hast? Und überhaupt, warum ist Stricken plötzlich der neue Sex?
Auf den Hund gekommen.
Ich hab vor ein paar Jahren an dieser Stelle deponiert, warum Frau und Mann einander nie verstehen werden. Sie sind zu unterschiedlich drauf, beim Reden ebenso wie beim Handeln, und beim Sex sowieso; weil die Evolution es eben wollte, dass der männliche Körper 20-mal soviel Testosteron produziert wie der weibliche, was unter anderem auch heißt, dass der Mann nach einem Tag ohne Sex so drauf ist wie die Frau nach zwanzig Tagen ohne Sex. Anders gesagt: Fremdgehen ist immer ein Thema, aber wie geht so was im Lockdown? Nun, ich hab Ashley. Sie geht täglich mit mir spazieren und ist voll auf mich eingestellt, sie liest mir die Worte von den Lippen ab und findet alles okay. Sie frisst mir aus der Hand. Kein Zweifel, es ist bedingungslose Liebe. Keine Ahnung, wie ein Mensch ohne Hund leben kann.
Bei zweibeinigen Girls sind die Chancen leider irgendwo zwischen „gering“ und „null“ angesiedelt, und „gering“ wohnt hier seit Corona nicht mehr. Wie machst du das also? Was tust du in den neunzehn Tagen, die nicht der zwanzigste Tag sind? Wie holst du dir die „Wohlfühl“-Endorphine und das ominöse Dopamin-Hormon, das deinem Gehirn die angenehmen „ist eh alles leiwand“-Gedanken einbläut?
Wenn die großartige Cory Chase mit ihrem Stiefsohn techtelt und auf ihre unnachahmliche Art „Please, son, not in my ass“ seufzt, und vom Schlafzimmer her räuspert sich die Gattin und will deine Präsenz, stellt sich die Frage: Hattest du jemals das Gefühl, dass du dein Pornogirl betrügst, wenn du mit deiner Frau das Kissen teilst?
Sogar Matthias Horx pocht auf Dopamin, für ihn ist es „eine körpereigene Zukunftsdroge“, die uns auf das Kommende neugierig macht. „Wenn wir einen gesunden Dopamin-Spiegel haben“, sagt er, „schmieden wir Pläne (und) haben Visionen, die uns in die vorausschauende Handlung bringen.“Also nein, ganz so easy ist das nicht. Erstens ist Dopamin am besten dort zu ernten, wo auch der Sex beheimatet ist, in Zeiten des verordneten Hausarrests also am Planeten Porno. Dort lässt es sich im Lauf der Monate schwer verhindern, dass sich eine gewisse familiäre Zuneigung breit macht. Jeder User hat seine Lieblinge, und ein Orgasmus lässt sich mit links entfachen, es sei denn, du bist Rechtshänder. Und richtig, das schafft Dopamin (alles ist gut). Außerdem aber hast du plötzlich neben der Bescherung in der Hand auch Oxytocin im Blut, das nicht von ungefähr „Treuehormon“ heißt, es macht so verdammt anhänglich. Fehlt nur noch, dass am Laptop im Homeoffice die großartige Cory Chase mit ihrem Stiefsohn techtelt und auf ihre unnachahmliche Art „Please, son, not in my ass“ seufzt, und vom Schlafzimmer her räuspert sich die Gattin und will deine Präsenz. Anders gesagt: Hattest du jemals das Gefühl, dass du dein Pornogirl betrügst, wenn du mit deiner Frau das Kissen teilst? Spätestens dann wird es wohl Zeit, den Lockdown-Lifestyle zu überdenken.
Zweitens aber ist der Horx’sche Ansatz von „Pläne schmieden“ sinnlos. Du kannst es versuchen, nur führt es derzeit ins Nirgendwo. Vor Kurzem hatte ich einen netten Talk mit Theaterfrau Nina C. Gabriel, die mir erzählte, wie sie das Theaterjahr 2020 geplant hatte, zwei Theaterstücke voll geprobt, alle Texte auswendig gelernt, aber die Aufführungen wurden gestanzt. „Es fühlte sich an wie ein Coitus interruptus“, sagte sie. Ja, planen macht keinen Sinn.
Allein, Thema ist die Zukunft allemal. Irgendwann willst du weder spekulieren noch wissen, wie das Leben weitergeht, die Frage ist nur mehr: Willst du einen halbwegs erträglichen Lebensrest, oder reicht dir die übliche Öde des Seins? Bzw., auf Bowie-Speak: You got five years, was willst du damit machen?
Fernweh it is
Die spontane Antwort ist logisch, sie hat mit Fernweh zu tun. Wenn sie mein Pub zusperren, hört sich der Spaß auf, und ein Homeoffice geht schließlich überall. Außerdem ist da dieser diskrete Charme der Wirtschaft, die Flüge sind da und viele Länder gastfreundlicher als offiziell dargestellt, es geht ums Überleben. Eine Freundin hat ihr Homeoffice in Malta etabliert. Einfach himmlisch, erzählt sie, so safe fühlte sie sich noch nie. Okay, anfangs war es aufwändig, zuerst ein PCR-Test, dann online das Ausfüllen des Health-Care-Formulars für die Airline, detto ein Tracking-Formular. Im Flugzeug nur 14 Passagiere, mit Ankunft eine Freiheit, von der du fast schon vergessen hast, wie sich das anfühlt. Balkon mit Blick auf die Küste, superfreundliche Einheimische. Wichtig nur, nicht online nachzuschauen, was zuhause los ist.
Der Talk mit der Freundin führte zu einer Idee, man hat ja Erfahrung. Lamalera, dachte ich. Auf Lembata, einer Insel wie keine zweite, in Indonesien am Rand der Welt. Ein Check bei der einschlägigen Corona-Info bestätigte das Logische: kein Corona. Wär auch sonderbar. Ich war mal beruflich zu Gast in Lamalera, weil es dort Waljäger gibt. Ich kontaktierte meinen damaligen Fixer, einen Einheimischen namens Marleno. Flüge kein Problem, sagte er, er pendelt gerade zwischen Indonesien und Frankfurt, weil er eine Deutsche geschwängert hat. Okay, die Anreise dauert Tage, Flug nach Denpasar (Bali), dann Weiterflug nach Kupang (Timor), Mietauto zur anderen Seite der Insel und Propellermaschine nach Lewoleba (Lembata). Letzte Etappe ein halsbrecherischer Tagesritt per ramponiertem Vehikel durch den Dschungel, der ist gefährlich, du weißt weder, welche Brücke noch hält, noch gibt es Nachrichten von den üblichen Erdrutschen. Aber das ist der Punkt: Kein Mensch fährt nach Lamalera, kein Lamalera-Bürger gibt sich den Trip nach draußen. Kein Corona. Und bist du mal dort, bist du im Paradies.
Lost in Paradise
Das Meer zum Beach ist ein Bio-Hotspot, ein fruchtbarer Reiseweg für Pottwale, Mantarochen und Walhaie; für Lebewesen, die du sonst nur von Sir Attenborough kennst. Das eine Gästehaus ist eine Holzhütte mit Oberstock und Balkon, der „Hotelier“ ein Dorfältester mit Spitzname Papa Greedy. Geld spielt kaum eine Rolle, die Währung ist noch immer Walfleisch, mit einem guten Kilo davon kannst du am Markt Gemüse kaufen. Die Fitness kommt automatisch, nämlich vom Rudern, der Pottwal strandet nicht freiwillig am Beach, er muss gejagt werden, mit Spießen aus Bambus, was auch nicht ungefährlich ist, denn sitzt mal ein Spieß, dann fließt das Blut und kommen die Haie. Und die Schwanzflosse eines Pottwals im Todeskampf ist auch respektabel, sie versenkt so manches Boot. Unglaublich, wie schnell du dann schwimmen kannst. Eine wesentlich sympathischere Gefahr als die coronabedingte, für etwaige getriggerte Ängste hast du keine Zeit.
Im Großen und Ganzen schafft das Ambiente ideale Rahmenbedingungen für coronaverdrossene Westler. Die hormonellen Koordinaten, wie gesagt. Die Sonne scheint auf Lamalera, das bringt Vitamin D, schützt vor Depression. Und was den Rest der hormonellen Dreifaltigkeit (Endorphine, Dopamin, Oxytocin) anbelangt, hier nur so viel: Viele Männer kehren von der Waljagd nicht zurück, das Dorf ist voller Witwen, und alle sind supernett. Okay, so weit der Plan – der wie jeder gute Plan mit einer Frage beginnt: Was tun mit dem Rest deines Lebens – die vertraute Misere oder das ungewisse Abenteuer? Und jeder Lebensrest beginnt mit einem ersten Schritt.
Ich bin jetzt mal weg!