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Auri sacra fames: Der Fall Cyberpunk 2077

Die Geschichte rund um das aktuell wohl meistdiskutierte und die gesamte Zocker-Szene spaltende Game ist fast so dramatisch wie die Storyline im Spiel selbst. Und eine toxische Mechanismen der Branche entblößende Tragödie. Eine Chronologie der Gier und Pannen.

Text: Markus Höller / Fotos: Hersteller

Nach mehr als 85 Stunden Netto­spielzeit inklusive praktisch aller abgeschlossenen Nebenmissionen und dem mitunter hochemotionalen Erleben aller möglichen Enden von „Cyberpunk 2077“ fällt es mir schwer, mein Fazit in Worte zu fassen. Zu vielschichtig sind nicht nur die Eindrücke vom Spiel selbst, sondern vor allem der Begleitumstände rund um Entwicklung und Launch. Mein Exemplar des Spiels und auch die Hardware dazu – eine PS5 – erhielt ich quasi unmittelbar zur Druckabgabe des letzten WIENER. Zu diesem Zeitpunkt bedauerte ich die Tatsache, keine brandaktuelle Rezension zu einem der meistantizipierten Games des Jahres, oder besser gesagt, der letzten Jahre schreiben zu können. Rückblickend betrachtet bin ich jedoch froh, nach vielen Wochen einen weit umfassenderen Kommentar zum bugbehafteten „Cyberpunk 2077“ im Speziellen und der kaputten Gamesindustrie im Allgemeinen abgeben zu können.

Mein Hauptcharakter „V“, wie ich ihn gestaltet habe. Ich spiele übrigens nach Möglichkeit immer weibliche Charaktere, Mann bin ich im echten Leben ja ohnehin dauernd.

Kaputt, richtig. Dieses Wort eint das Spiel und die Branche auf eine geradezu ironische Art und Weise. Aber sehen wir uns mal die Timeline an. Es beginnt alles irgendwann in den 80ern, als der Begriff „Cyberpunk“ und diverse Games- und Literaturderivate irgendwie en vogue werden. „Blade Runner“ und „Ghost in the Shell“ gelten als Urväter einer zwar hochtechnologischen, aber tristen Dystopie, in denen auch das aktuelle Spiel wurzelt. Dieses wird ab ca. 2012 vom polnischen Studio CD Projekt Red entwickelt. Ein unabhängiges Haus, dass sich damals mit der „Witcher“-Trilogie einen Namen machte und damit höchstes Ansehen und praktisch unbegrenzten Vertrauensvorschuss der Zocker-
Szene genoss. Entsprechend aufgeregt verfolgt jeder, der auch nur irgendwie an Action-RPGs interessiert war, fortan die spärlich gesäten News zur Entwicklung, während weiterhin brav „The Witcher 3“ gezockt wird – übrigens immer noch eines der besten Games aller Zeiten. Als dann 2018 erstmals konkretes Material rund um Aussehen, Technik und Story vorgestellt wird, flippen alle aus. Der Hypetrain drückt das Gas­pedal durch und montiert die Bremsen ab; vereinzelt geäußerte Bedenken ob der Machbarkeit für die zu dem Zeitpunkt aktuellen Konsolen gehen im Mediengetöse unter. Obwohl schon beim auf PCs makellos laufenden „Witcher 3“ deutliche technische Probleme der Konsolenversionen sichtbar sind, hält man am ambitionierten Vorhaben des gleichzeitigen Launches auf allen Plattformen fest. Zeitgleich mehren sich analog zu globalen Trends in der Branche auch in Polen Beschwerden über unmenschliche, Burn-out-fördernde Arbeitsbedingungen während der Phase der finalen Entwicklung (im Fachjargon „Crunchtime“). Die Chefetage in Warschau jedoch beteuert, dem gesundheitlichen Wohl der Mitarbeiter und dem technischen Wohl des Games höchsten Stellenwert einzuräumen. Sprich: Es ist fertig, wenn es fertig ist.

Umso größer die Überraschung, als im Juni 2019 nicht nur ein ­weiterer Trailer, sondern auch das Mitwirken des Kino-Superstars, Internetheiligen und generell eines der besten Menschen der Welt, ­Keanu Reeves, vorgestellt wird. Der ohnehin schon im Overdrive befindliche Hypetrain zündet daraufhin den Nachbrenner. Weitere Details wie die Tatsache, dass man seinen Spielcharakter bis ins ­Detail (inklusive der primären
Geschlechtsmerkmale) designen kann, heizen die aufgeregte Stimmung immer mehr an. Tolle technische Neuerungen, die das Spiel grafisch in eine neue Liga katapultieren sollen, die Ankündigung der nächsten Generation an Spielkonsolen und das immer absurder werdende technische und finanzielle Wettrüsten der Grafikkartenhersteller erzeugen eine immense Erwartungshaltung. Die Ankün­digung, mit „etwas erhöhter Crunchtime“ im April 2020 erscheinen zu wollen, kommt da keinem komisch vor. Zu geil sind alle bereits auf den Titel, Ratio wird ad acta gelegt. Im Jänner 2020, noch ein gutes Stück vor den ersten Anzeichen der Pandemie, verschiebt CD Projekt Red den Launch auf September, im Juni dann nochmals auf November. Die Crunchtime in Polen wird signifikant verschärft, erste durchaus beeindruckende Previews halten die Community bei Laune. Nicht zuletzt auch die famose technische Performance von „The Last of Us 2“ auf der PS4 lässt die Konsolen-Gamer auf ein geniales Spiel hoffen, vor allem auch aufgrund der angekündigten Kompatibilität mit den in den Startlöchern befindlichen PS5 und Xbox Series X. Eine erneute Verschiebung auf Dezember und Berichte über verpflichtende Wochenendarbeit bei CD Projekt Red ­lassen aber erstes Stirnrunzeln in der Branche erkennen.

Wie alles begann: „The Witcher 3“ ist ein famoser Geniestreich von CD Projekt Red – allerdings auch großes Erbe.

Dezember, endlich. Während ausgesuchte Medienpartner schon zwei Wochen vor dem Launch die PC-Version (und nur diese) er­halten und sich zufrieden zeigen, kippt mit dem Release der Konsolenversionen schlagartig die Stimmung. Auf den auslaufenden, aber eigentlich unterstützten Konsolen PS4 und Xbox One ist das Game praktisch unspielbar, die PC-Version erfordert für die optimale Performance kostspielige Hardware (die aber wegen der schon genannten Hersteller-Scharmützel schwer erhältlich ist), und selbst auf den brandneuen Konsolen bleibt die Performance weit hinter dem PC-Standard zurück. Zahlreiche Glitches und plötzliche Abstürze können auch mit hastig zusammengestoppelten Patches kaum behoben werden. Bereits kurz nach dem Start nimmt Sony in einer noch nie dagewesenen Notbremse­-Aktion das Spiel wieder aus dem PS-Store, CD Projekt Red bietet enttäuschten Kunden eine Rückerstattung an. Ein bisher ungekanntes Fiasko bei einem Toptitel, der mit geschätzten Entwicklungskosten von jenseits der 300 Millionen Dollar auch den Klassiker „GTA 5“ von Platz eins der teuersten Produktionen aller Zeiten stößt.

Never change a running system: Vor sieben(!) Jahren noch für PS3 und Xbox 360 veröffentlicht, erfreut sich „GTA V“ immer noch ungebrochener Begeisterung.

Apropos GTA: Was machen die eigentlich so? Nun, Rockstar ­Games macht einfach so weiter wie bisher: Sie geben bekannt, dass es einen Port ihrer Cashcow auf die aktuellen Konsolen geben wird, fertig. „GTA 6“? Schaumamal.

Zurück zu „Cyberpunk“. Die Geschäftsführung von CD Projekt Red entschuldigt sich in einem ­offenen Brief für die eklatanten Mängel der Konsolenversionen und räumt ein, den Entwicklungsaufwand abseits der PC-Version deutlich unterschätzt zu haben. Umfangreiche Patches sollen graduell die Versionen für PS4 und Xbox One, aber auch die immer noch alles andere als rund laufende PC-Version aufbürsten; im Lauf des Jahres sollen auch native Ver­sionen für die aktuellen Konsolen kommen, die deren mächtigen Leistungsreserven gerecht werden.

Und die Moral aus der Geschichte? Lassen wir mal die Zahlen sprechen. Wie auch schon bei „GTA 5“ verblassen die Entwicklungskosten im Vergleich zum Ertrag, Marcin Iwinski und seine Leute werden auch in Zukunft nicht Hunger leiden müssen. Mit über 600 Millionen Dollar Erlös nur aus der digitalen Distribution lassen sich die paar Rückgaben schon verschmerzen, CD Projekt Red dürfte trotz Corona eine recht zufriedenstellende Bilanz 2020 abgeben. Das freilich war und ist diversen Shareholdern nicht genug, eine im Dezember eingebrachte Klage gegen den Hersteller und die üblichen hysterischen, von realen Zahlen entkoppelten Kursschwankungen der Aktie lassen auch Analysten die Köpfe schütteln. Rufe nach Ablöse der Geschäftsführung, Gewinnwarnung – man kennt den Irrsinn von der Börse abseits der Spielindustrie. Aber hinter vorgehaltener Hand sind die Antreiber der völlig verpeilten Release-Policy klar festgemacht: Die Anteilseigner selbst, die trotz abzusehender Mängel auf die Entwickler Druck gemacht haben, das Game noch vor Weihnachten rauszuhauen, um jeden Preis. Den sie jetzt zahlen. Tja, der verfluchte Hunger nach Gold. Eine Verschiebung um ein Jahr, mit der Konsequenz wirklich polierter Versionen, hätte noch im Frühjar 2020 weit weniger Verdruss und Verlust erzeugt als die letzten drei Monate. Aber ja, hätte, hätte, Fahrradkette. Daher: gleich mit fetter Grafikkarte die PC-Version spielen? Auf jeden Fall. Oder auf den Sommer warten und die „gute“ Version auf einer neuen Konsole spielen? Definitiv ja.

Denn unterm Strich und nach Abzug der durch unglückliche Release-Policy vorhandenen technischen Schönheitsfehler ist „Cyberpunk 2077“ einer der
faszinierendsten Titel der letzten Jahre, der den Spieler unweigerlich in seinen Bann zieht und tief sitzende, bleibende Eindrücke hinterlässt. Und mich ganz tief drinnen auf schon bald folgenden DLC hoffen lässt, alleine schon im Interesse meiner Heldin, V …

Cyberpunk 2077
Entwickler: CD Projekt Red
Publisher: CD Projekt
Erschienen für: PC, Xbox One, PS4, Stadia Engine: REDengine 4
Spieler: Singleplayer