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Hedon ist …

Manfred Sax

Es kann sein, dass es dauert. Aber irgendwann begreifst du, dass das Leben da ist, um es zu genießen. Und dafür muss man nicht mal ein Hedonist sein. Also: Auf in den Sommer 2021.

Text: Manfred Sax / Foto: Getty Images

Es wird ein Sommer wie noch nie. Bei so einem Satz denkst du automatisch an Orgien und Exzesse und Ähnliches. Du denkst an die entfernte Bekannte im Gesichtsbuch, die endlich wieder einmal tanzen und saufen und an der Bar vom Hocker fallen wollte, ohne am nächsten Morgen zu wissen, wie sie nach Hause kam. So stellst du ihn dir vor, den Sommer wie noch nie. Nur war es anders gemeint. Gemeint war ein Sommer, von dem keiner was weiß. Ein Sommer, für den ein neuer Begriff erfunden wurde: ein Sommer des Covid-gefügigen Hedonismus.

Hedonismus hängt gerade an der großen Glocke. Überall wird dir ein hedonistischer Sommer angeboten, und daneben stehen Worte wie „eine Woche Geilheit“, „unter dem Einfluss“ (ja, Jamaika) oder „swingerfreundlich“. Oha, denkst du, das klingt nach Sex und Drogen. Ist okay, aber gibt es dort auch Frauen? Und schon fällt dir ein weiterer bislang unbekannter Begriff in die Augen: wie wärs mit „Post-Vacc-Dating?“ Hört sich genial an. Da fällt wohl die ganze Flirtsache weg. Du gehst einfach hin zu ihr und ziehst den linken Ärmel über die Schulter und sagst: „Willst du mein Pflaster sehen?“ Und sie strahlt und erwidert: „Super, ich hab auch eines, sogar in der gleichen Farbe!“ – Also, wenn das nicht ein Zeichen von oben ist. Und schon ist die Welt deine Auster. Im Sommer wie noch nie. Störend nur die Wortschöpfung „Covid-gefügig“. Mag sein, dass du wenig über Hedonismus weißt. Aber du weißt, was ein Widerspruch ist. Hedonismus passt weder zu „Covid“ noch zu „gefügig“, und du kennst sowohl „Covid“ als auch „gefügig“. Was ist also Hedonismus?

Haltung – mal wieder.

Es beginnt mit Haltung. Zur Lage, in der wir alle stecken: Du kannst 100 Jahre alt werden, wenn du alle Dinge aufgibst, die dich wünschen lassen, 100 Jahre alt zu werden. (1) Das ist der Mittelfinger das menschlichen Seins. Klar daher, dass Hedonismus mit Gesundheit wenig am Hut hat. Wir haben gecheckt, dass das H-Wort aus dem Griechischen kommt und für Vergnügen, Freude, Genuss und Lust steht. Dennoch ist nicht alles, was Spaß macht, gleichzeitig auch Hedonismus. Die Haltung, wie gesagt. Zu viele Genüsse sind wenig mehr als banaler Konsum. Man nehme die oben erwähnten Sommerangebote. Du klickst auf jenes mit „einer Woche Geilheit“ – und landest bei all den Hotels mit Swimmingpool davor und Palmen dahinter, die du schon vor zwei Jahren kanntest, und was jetzt „swingerfreundlich“ ist, war damals „familienfreundlich“. Das ist nicht hedonistisch. Es ist Versuchung zum Konsum. Was aber tun mit der Versuchung? Sie ist kein hedonistisches Feeling, sie hat was Zwanghaftes, sie muss verschwinden. Hedonismus ist Freiheit von Zwang, gibt es zur Zeit Attraktiveres? Aber der einzige Weg, Versuchung loszuwerden, ist sich ihr zu beugen. Widerstand zwecklos, das führt nur zu kranker Seele. (2) Im Zweifel also eine Woche „unter dem Einfluss“. Mit Jamaika-Zeug kann man wenigstens arbeiten.

Die unvermeidliche wie wunderbare Jane Birkin. Eine Hedonistin vor dem Herren …

Der Punkt ist: Beim Hedonismus fährt die Seele mit. Das Gemüt. Der Geist. Um klarer zu sehen, bedarf es wohl eines präziseren Framings. Zum Beispiel geographisch. Der Österreicher ist da in einer hochinteressanten Lage. Psychisch gesehen ist es fast ein Grabenbruch. Im Süden Italien, wo das Lustprinzip dominiert, im Norden der rational denkende Deutsche. Und Österreich genau in der Mitte, voll mit Österreichern, die im Ausland als Italiener gelten, die gern Deutsche wären. Nicht wirklich mit der emotionalen Intelligenz eines Italieners gesegnet, und keineswegs so pünktlich wie die Deutschen. Aber immerhin hat Oscar Wilde auch diesen Satz hinterlassen: Pünktlichkeit ist ein Feind des Hedonismus. Markus Peichl, ehemals Chefredakteur des WIENER, kann ein Lied davon singen. Solider Hedonist, der er ist, hat er einmal – in Deutschland! – eine Deadline verpasst. Darauf zur Rede gestellt, erwiderte er: „Pünktlich sein kann ein jeder Depp.“ Logisch, dass er gefeuert wurde. Aber der Satz wurde Legende. So ist Hedon.

Marcello the man.

Zwischen Deutschland und Italien klebt also der Österreicher sozusagen zwischen zwei Stühlen. Wenn ihm der Deutsche sagt, wie spät es ist, fehlen ihm immer ein paar Minuten, und wo die überlegene Emotionalintelligenz dem Italiener stabile Identität beschert, klafft beim Österreicher ein seelisches Vakuum. Das schafft eine Art Basis-Misstrauen gegenüber der Welt, eine Angst-Willigkeit. Bekanntlich sind die Österreicher die einzigen Flugpassagiere, die bei erfolgreicher Landung klatschen. Schmerzhaft, eigentlich. Zum Glück operiert das hedonistische Lustprinzip zweigleisig: durch Vermehrung von Genuss, oder aber durch Verminderung von Schmerz. Jeder halbwegs experimentierfreudige Mensch mit chronischen Schmerzen weiß, dass der Spliff ein besserer Painkiller ist als die stärkste Schmerztablette. Allerdings ist hier nicht von körperlichen Schmerzen die Rede, es geht um den Geist. Hedonistisch gesehen ist Genuss nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern ein Ansporn. Ein Öffnen, ein lustvolles Erwachen der Neugier. Grob skizziert setzt der Mensch auf eine dionysische Existenz (leibliche Freuden), sein apollonisches Potential– der Himmelssturm, die Expansion des Geistes – kommt etwas kurz. Diesbezüglich hat der amerikanische Autor Carlos Castaneda in den Hippy-Jahren mit seinen „Lehren des Don Juan“ Aufsehen erregt. Dieser Don Juan (Matus) war ein mexikanischer Schamane, der ihn Drogenkultur lehrte, im speziellen Fall mit Peyote, einem Mescalin-hältigen Kaktus; Psylocibin-hältige Magic Mushrooms (Blue Meanies, Golden Tops) sind eine vergleichbare Variante. Der Akzent liegt nicht auf Drogen, sondern auf Kultur. MRI-Scans haben gezeigt, dass diese Dinger Zonen im Gehirn erhellen, die „normal“ ein dunkles Dasein fristen. Du hast sozusagen mehr Hirn. Nur bist du deswegen nicht gescheiter, du siehst lediglich mehr, unter anderem Dinge, die sich mit deiner Ratio nicht vertragen, wer redet schon stundenlang mit Kühen? Anyway: Richtig gemacht, heißt es da, vermehren die Dinger den Genuss und mindern gleichzeitig die psychischen Troubles. Wichtig sei eine vorbeugende Verneigung vor Apollo, umgesetzt durch 24 Stunden striktes Fasten, das harmonisiere die Gehirnströme. So bleibt der nach Drogeneinnahme ungestüme Dionysus in der Kontrolle eines hellwachen Geistes. Klingt nach Win-win.

Helmut Berger, Hedonist en nature, wurde am 29.5. 77 Jahre alt, übrigens

Natürlich ist der Sex nicht weit, wenn du Hedonismus meinst. Die Frage ist, ob du Hedonist bist, wenn du Sex nur konsumierst. Klassiker Affäre: Wenn du auf Liebe machst, damit du Sex kriegst, und sie Sex gibt, damit sie Liebe kriegt: ist das Hedonismus? Natürlich nicht, es ist eine mehrwöchige Ernte des Hormontanzes (die Schmetterlinge!), eine zur Droge entwertete Liebe, die Abhängigkeiten schafft und mit imposanter emotionaler Talfahrt endet. Ein Hedonist kann ohne Liebe, er liebt Sex, aber wirklich. Apropos Abhängigkeiten: Die Fähigkeit zu Hedonismus steigert sich durch Besitzlosigkeit. Nichts macht so müde wie irdische Güter, wie Besitz. Und Besitzdenken in Sachen Partner kann Hedonismus ruinieren. Das macht Sex zu dritt ebenso interessant wie bisweilen tragikomisch. Eifersucht ist nicht wirklich eine hedonistische Spielart. Die totale Absenz von Einbringen auch nicht. Es fehlt irgendwie die entsprechend hedonistische Note, wenn du endlich zu dritt irgendwo sitzt, und die Frau des Hauses steht plötzlich auf und meint „habt ihr es bequem? Dann viel Spaß, ich muss noch was arbeiten, bin busy.“ Fast ein Minenfeld der Dreier von zwei Männern und einer Frau. Eine Triole wird zum Disaster, wenn die Männer plötzlich Alpha-Allüren entwickeln und zu Konkurrenten werden. Aber gut, eine Triole ist höhere Kunst und Sex auch nicht mehr easy …

Huch, Heast und überhaupt …

Was, jetzt schon? Ausgerechnet! Der Schlussredakteur hat gerade angerufen, von wegen Deadline. Tja, da ist er wieder, dieser Zwang, dieser deutschmäßige Gehorsam in Sachen Pünktlichkeit, dieser Rückfall in den hedonismusfeindlichen Alltag. Es gäbe noch Etliches zu erwähnen – dass der Narziss sich nicht für Hedonismus eignet, weil „hedonistisch“ und „egozentrisch“ einander ausschließen, und wer wirklich Hedonismus meint, der meint auch Expansion und Öffnen und Geben. Und so weiter. Aber davon ein Andermal. Die Deadline, wie gesagt. Hedon ist … sicher kein Schlussredakteur.

(1) Woody Allen (2) Oscar Wilde

INFO. FESTIVALS UK: https://www.theguardian.com/culture/2021/mar/27/best-summer-festivals-strawberries-creem-standon-calling-bigfoot-black-deer