Film & Serie

Oscars, Premieren und Rätsel

Markus Höller

Oscars 2023: Endlich mal wieder Oscars im normalen Rahmen. Nicht in Jogginghosen daheim, hoffentlich ohne Watschen auf der Bühne – aber trotzdem oft seltsam.

Text: Markus Höller / Foto Header: Pixabay

Geschafft! Nach knapp drei Jahren also die Pandemie gemeistert (unser Ex-Basti hat es ja schon früher behauptet). Es gibt wieder volle Kinosäle, und der Big Screen hätte nach der langen Zeit des Leidens nicht eindrucksvoller zurückkehren können. Mit Top Gun: Maverick und Avatar: The Way of Water wurden nicht nur der zwölft- bzw. dritterfolgreichste Film aller Zeiten gestartet, sondern auch ein deutliches Signal an alle Patschenkino-Slacker ausgesandt. Wenn es um die wirkliche Macht des Mediums geht, kann dein 65-Zoll-4K-Fernseher einpacken, selbst dein Heimkino, Sportsfreund. Auch wenn weder das Starvehikel rund um Tom Cruise noch die CGI-Vollendung von Knüllerkönig Cameron nicht unbedingt die großen Themen der Menschheit zum Diskurs stellen, liefern sie etwas, was es sonst nur in Form von illegalen Drogen gibt: überwältigende Sinneseindrücke und völligen Eskapismus aus der traurigen Realität. Und nun zu den Preisen, oder besser gesagt Oscars, Premieren und Rätsel.

Ambition ist nicht genug, für einen Oscar muss aber schon auch handwerkliches Können her. Am Beispiel vom zwar nominierten, aber durch und durch hinter den Erwartungen zurückgebliebenen Bombast-Streifen Babylon erkennbar. Aber auch an Blindgängern wie Bullet Train (keine Nominierung) oder Amsterdam (keine Nominierung) erkennbar, reicht Starpower allein auch im Jahr 2022 nicht aus. Wer könnte da beispielsweise aktuell besser ein Lied davon singen als Tom Hanks. Einer der wahrscheinlich besten und populärsten Schauspieler seiner Generation hat in nur einem Jahr mit der Verkörperung des Col. Parker im Biopic Elvis und als Gepetto in der katastrophalen Disney-Neuverfilmung Pinoccio zwei Tiefpunkte seiner Karriere erreicht.

Rätsel

Und das Beispiel Pinoccio bringt mich zu des Pudels Kern: wie kann es sein, dass im selben Jahr ein und dasselbe Thema bei gleichen Mitteln und Möglichkeiten so meisterlich (Del Toro) und stümperhaft (Disney) umgesetzt wird? Wie selbst Steven „GOAT“ Spielberg ausgerechnet mit einem autobiografischen Werk einen – nicht nur für seine Verhältnisse – dermaßen mediokren Film wie The Fabelmans abliefert? Messerscharfe (pun intended) Satire wie The Menu leer ausgeht, ein im Strickmuster ähnlicher, aber wesentlich weniger inspirierter Triangle of Sadness gleich mit drei Nominierungen aufwarten kann? Und last but not least: die Academy trotz aller Kontroversen und manchmal auch offensichtlich blanker Ahnungslosig- und Lobbyhörigkeit dann letztlich einen deutschen(!) Kriegsfilm, ein irisches Kammerspiel und einen völlig wahnwitzigen Asia-Fiebertraum mit neun respektive elf Nominierungen an die Spitze setzt – und das völlig zu Recht?! Einmal mehr entzieht sich mir die Logik des Award-Wesens. Aber nichtsdestotrotz folgt nun nach Sichtung aller 39 Nominees (wie immer: Kurzfilm mag ich nicht) erneut meine Einschätzung derer, die gewinnen sollten – und derer, die voraussichtlich tatsächlich gewinnen werden.


Bester Film
Erneut schickt die Academy zehn Streifen ins Rennen, und das Feld ist wieder mal recht dicht. Wenn auch aus völlig unterschiedlichen Blickpunkten. So könnten Filme wie The Banshees of Inisherin oder Avatar: The Way of Water unterschiedlicher nicht sein. Ode auch Top Gun: Maverick und Women Talking. Und das meine ich völlig ohne Wertung. Allesamt brillant, aber in völlig verschiedenen Genres, oft sogar Nischen daheim. All Quiet on the Western Front und Tár, großartig. Ebenso, wenn meiner Meinung nach mit Abstrichen, auch Elvis, Triangle of Sadness und The Fabelmans. Aber eben auch: Genre und Nische klar zuordenbar. Der einzige Film, der in dieser hochkarätigen Riege mit hohem handwerklichen Können und hervorragenden schauspielerischen Leistungen jeden Anflug von Berechenbarkeit und Formelhaftigkeit abstreift wie ein Gemälde von Dali, ist Everything Everywhere All at Once aus dem hochgeschätzten Haus A24.Muss und wird daher den Preis der Preise heimtragen.

Oscars, Premieren und Rätsel: Everything Everywhere All at Once
Everything Everywhere All at Once (© A24)

Beste Regie
Normalerweise eine leichte Entscheidung, wenn die fünf besten Regisseure mit ihren Streifen auch gleichzeitig in den nominierten zehn besten Filmen zu finden sind. Ginge es danach, wäre das für Dan Kwan und Daniel Scheinert aka The Daniels mit Everything… eine einfache Übung, denn Todd Field mit Tár, Ruben Östlund mit Triangle of Sadness und Martin McDonaghs The Banshees of Inisherin fallen hier doch etwas zurück. Jedoch: Hier mischt auch Großmeister Steven Spielberg mit. Der trotz seines beispiellosen Oeuvres und sieben Nominierungen als bester Regisseur bisher „nur“ zwei tatsächlich aufs Kaminsims stellen konnte. Auch wenn die Academy ein Meisterwerk wie Everything… als bester Film unter Maßgabe aller Vernunft einem Film wie The Fabelmans vorziehen muss, sind vielleicht viele Jurymitglieder geneigt, dem Obermeister mit dem Regiepreis für seine Nabelschau Tribut zu zollen. Also: sollten die Daniels werden, könnte aber auch the GOAT werden.


Beste männliche Hauptrolle
Wirklich ein Jammer, dass Will Smith letztes Jahr die verdiente Krönung seiner Karriere noch am selben Abend mit dieser unnötigen Unbeherrschtheit ruiniert hat. Zumindest ist diesbezüglich heuer nichts zu befürchten. Was aber bleibt, ist ein dichtes Feld an Herren mit grandiosen Leistungen. Vielleicht am wenigsten chancenreich, wenn auch alles andere als schlecht, ist Paul Mescal in Aftersun. Einfach nur deswegen, weil sein Spiel von einer Mischung aus erfahrenen Kapazundern, einem Supertalent und einem großartigen Comeback überstrahlt wird. Bill Nighy in Living liefert die vermutlich beste Leistung seiner langen Karriere ab, Colin Farell mit etwas weniger Lenzen in The Banshees of Inisherin detto. Ausschnapsen müssen und werden sich diese begehrte Trophäe wohl Austin Butler für seine sagenhafte Darstellung als Elvis einerseits. Und der im realen Leben gebeutelte, aber wie aus dem Nichts zur Hochform aufgelaufene Brendan Fraser als sprichwörtlicher The Whale. Hoch verdient für beide, ich votiere für Fraser, die Academy möglicherweise für Butler. Bis zum Schluss offen!


Beste weibliche Hauptrolle
Diesmal eine polarisierende Liste. Da wäre zuerst mal Andrea Riseborough, die mit dem angeblich nicht ganz regelkonformen Lobbying für ihre Nominierung für einen Sturm im Wasserglas sorgte. Ist aber unerheblich, weil ihre Verkörperung einer alkoholkranken Assi-Mutter in To Leslie wirklich nichts Neues ist. Michelle Williams wurde für ihre Rolle in The Fabelmans sehr gehypted – mir bei dem Grad an Overacting völlig unbegreiflich. Ana de Armas als Marilyn Monroe in Blonde: Solide, aber zu kontrovers. Bleiben nur noch Cate Blanchett in ihrer brillanten Verkörperung einer toxischen Dirigentin in Tár und Michelle Yeoh in einem fulminanten Comeback in Everything… Wirklich schwer, unmöglich vorauszusagen. Gönnen würde ich Yeoh ihren ersten Oscar, aber auch Blanchett hätte ihren dritten mehr als verdient. Das wird eine der spannendsten Entscheidungen des Abends!


Beste männliche Nebenrolle
Es wird langsam langweilig: erneut nach 2021 und 2022 sind wieder zwei supporting actors aus demselben Film nominiert. Nämlich sowohl Brendan Gleeson als auch Barry Keoghan für ihre Rollen in The Banshees of Inisherin. Warum letzterer auch mitmischt, erschließt sich mir vor allem wegen der Über-Präsenz von Gleeson eigentlich nicht, aber gut. Weiters Brian Tyree Henry für eine solide Performance neben Jennifer Lawrence in Causeway und Judd Hirsch für The Fabelmans. Was diesen grundsätzlich guten Leistungen aber ein wenig fehlt, ist ein gewisser Funke, ein Feuer, das auf den Zuschauer überspringt. Das hat in meinen Augen nur Ke Huy Quan, der als sensationeller Sidekick von Michelle Yeoh in dem Wahnsinn von Everything… wirklich alles gibt. So gerne ich Brendan Gleeson bei einer Dankesrede gesehen hätte, aber ne.


Beste weibliche Nebenrolle
Und auch hier sind wieder zwei Nominierungen aus einem Film dabei, das wird langsam zu einer etwas seltsamen Sitte. Zumal hier klar erkennbar ist (eben weil im selben Film), dass die Performance von Stephanie Hsu in Everything… nicht im Geringsten mit der famosen Vorstellung von Jamie Lee Curtis vergleichbar ist. Letztere ist auch deutlich über denen von Hong Chau in The Whale und Kerry Condon in The Banshees of Inisherin zu verorten. Lediglich die große Angela Basset, zaubert in Black Panther: Wakanda Forever eine vergleichbare Magie auf die Leinwand. Zwei absolute Legenden also, die sich schon lange ein Goldmännchen verdient hätten, liefern sich hier ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Wirklich nicht einfach. Die Academy könnte aus Gründen *hust* diversity *hust* Angela Basset favorisieren – ich kann einfach nicht anders, als mir Jamie Lee Curtis zu wünschen.


Bestes Originaldrehbuch
Hier sind wieder fünf mittlerweile gute Bekannte nominiert. nämlich dieselben wie bei Beste Regie, und somit auch das halbe Feld von Bester Film. Angesichts der völlig eigenständigen, komplett losgelösten Ideen von Everything… liegt hier der Sieg eigentlich auf der Hand. Tár ist sicher ein würdiger Nominee, aber dann doch ein wenig zu unoriginell, was erst recht auf die eigentlich recht konventionellen The Fabelmans und Triangle of Sadness zutrifft. Aber, und das ist ein großes Aber: Der wirklich brillant geschriebene The Banshees of Inisherin könnte hier den Daniels noch hinsichtlich möglichem Oscar-Triple oder -Quadruple in die Suppe spucken, und das mit seiner unglaublichen Balance aus gefühlvollem Drama und köstlichem Humor keinesfalls zu Unrecht. Ich setze dennoch auf Everything…


Bestes adaptiertes Drehbuch
Hmpf. Ich weiß nicht wie ich den Begriff „adaptiert“ hier einordnen soll. Da haben wir mit Living ein Remake eines Films vom göttlichen Kurosawa, das im Wesentlichen nur Zeit und Ort ändert. Un einen leider im Vergleich zum ersten Film deutlich schwächeren Glass Onion: A Knives Out Mystery, der hier eigentlich nichts verloren hat. Women Talking ist eine schöne, aber idealisierte Version des Originalstoffs, ebenso wie All Quiet on the Western Front mit dem Buchklassiker nur noch sehr wenig zu tun hat. Und Top Gun: Maverick als Bastard aus Top Gun von 1986 und Episode IV kann ja wohl nur einen Witz in der Kategorie bedeuten. Absolut keine Idee, wer hier in der Gunst der Academy vorne liegen könnte, noch am ehesten Women Talking. Und auch in meinen Augen die beste Adaption in einer sehr durchwachsenen Kategorie.


Bester Internationaler Film
Beginnen wir mit dem krassen Außenseiter EO aus Polen, der der Gesellschaft wunderbar schräg und bissig einen Spiegel vorhält. Aber für die Oscars dann doch zu experimentell sein dürfte. Der belgische Beitrag Close und The Quiet Girl aus Irland sind fantastisch gefühlvolle und emotional fordernde Coming-Of-Age-Filme mit einem besonderen Twist, die hier völlig zu Recht in der internationalen Oberliga mitspielen. Szenenapplaus, bitte. Einen ebenso grundsoliden, aber schon eher dokumentarischen Charakter hat die argentinische Geschichtsaufarbeitung Argentina, 1985. Trotzdem kann diese aber punkto Wucht mit dem aktuell bedeutsamen Kriegsdrama All Quiet on the Western Front nicht mithalten. Ein klarer Sieg für Deutschland und „unseren“ Felix Kammerer in der Hauptrolle.

Oscars, Premieren und Rätsel: Im Westen nichts Neues
Im Westen nichts Neues (© Netflix)

Bester Animationsfilm
Auweia Disney. In der meist fix abonnierten Kategorie Animationsfilm ist die mächtige Maus zwar wieder nominiert, könnte aber chancenloser nicht sein. Turning Red ist zwar nicht so krampfhaft bemüht wie die 2022er Blindgänger Strange World und Pinoccio, aber dennoch sehr generisch. Dass es auch mit einem quasi alten Franchise durchaus noch geht, zeigt höchst unterhaltsam Puss in Boots: The Last Wish sowie die tadellose Netflix-Produktion The Sea Beast. Hier hat jemand seine Hausaufgaben gemacht! Marcel the Shell with Shoes On ist wahrscheinlich einer der putzigsten und originellsten Beiträge, die jemals in dieser Kategorie zu sehen war. Dennoch hätte er aber ehrlicherweise lieber im Kurzfilmformat bleiben sollen. Unschlagbar aber dieses Jahr: die handwerklich wie thematisch unfassbar gute Stop-Motion-Neuinterpretation der Holzpuppen-Sage in Guillermo del Toro’s Pinocchio. Eine Gewalt.


Bester Dokumentarfilm
Ein interessanter Mix an Dokumentarfilmen, die sich mit sehr unterschiedlichen Themen befassen, vom Stil aber alle sehr klassisch angelegt sind. Die sehr nischige Doku All That Breathes zum Beispiel aus Indien über zwei Brüder in Dehli, die sich der Rettung von bedrohten Schwarzmilanen widmen. Oder Fire Of Love über das ungewöhnliche Leben, Lieben und leider auch Ableben des wohl einzigen Vulkanforscherpärchens der Geschichte. All the Beauty and the Bloodshed wiederum zeigt auf sehr persönliche Weise den erfolgreichen Kampf der Künstlerin Nan Goldin gegen die Sackler-Familie, die mit ihrem Pharma-Imperium fast alleinverantwortlich für die amerikanische Opiod-Krise ist. Besonders bedrückend ist aber, dass zwei nominierte Dokus unmittelbar von den realen Ereignissen in der Ukraine und Russland eingeholt wurden. Zum einen A House Made of Splinters über die tragischen Ursachen und Leben ukrainischer Heimkinder. Und die nötige und ziemlich sichere Sieger-Doku Navalny, die sich mit dem mittlerweile inhaftierten russischen Oppositionspolitiker Alexei Navalny und dem unfassbaren versuchten Giftmord an ihm befasst. Ein immens wichtiger Film, der das System Putin erschreckend offenlegt.


Beste Kamera
Hier gibt es sowohl positive als auch kümmerliche Überraschungen. Fangen wir mit den Enttäuschungen an: Altmeister Roger Deakins liefert mit seiner Arbeit für Empire of Light ausgerechnet bei einem Film rund um ein Kino eine wirklich uninspirierte Arbeit ab, ebenso wie der sonst ausgesprochen fähige Darius Khondji unter der Anleitung von Iñárritu dem Film Bardo, False Chronicle of a Handful of Truths ein zwar beeindruckendes, aber letztlich nur anstrengendes visuelles Antlitz ohne Mehrwert verleiht. An der Stelle muss ich mich auch sehr wundern, warum Top Gun: Maverick hier gänzlich ignoriert wurde. Florian Hoffmeister jedenfall gelingt mit Tár eine hervorragend präzise Bildsprache, er muss sich aber am Ende des Abends wohl oder übel entweder Mandy Walkers traumhafter Verklärung Elvis oder James Friends alptraumhafter Vision All Quiet on the Western Front geschlagen geben. Ich persönlich gebe letzterem den Vorzug. Sollte sich Hollywood aber für Elvis entscheiden, wäre es eine echte Premiere: der erste Oscar für eine Frau hinter der Kamera!


Beste visuelle Effekte
Wozu sind im Jahr von Avatar: The Way of Water eigentlich überhaupt noch andere Filme in dieser Kategorie nominiert? Selten war eine Voraussage so einfach und noch dazu so berechtigt wie in diesem Fall. Nicht, dass die Mitnominierten da wenig zu bieten hätten: Top Gun: Maverick, All Quiet on the Western Front, Black Panther: Wakanda Forever und The Batman ziehen auch ordentlich vom Leder, aber mit James Camerons blauem CGI-Wunderwerk kann technisch derzeit einfach keine andere Produktion auch nur irgendwie mithalten. Wieder einmal ein Gamechanger.

Oscars, Premieren und Rätsel: Avatar: The Way of Water
Avatar: The Way of Water (© 20th Century Studios)

Bestes Kostümdesign
Eine Kategorie, in der die Traumfabrik wirklich immer bezaubert, ist Kostümdesign. Demzufolge ist es auch jedes Jahr sehr schwierig, hier einen eindeutigen Sieger zu küren. Eher abseits verorte ich aber ausgerechnet Mrs. Harris Goes to Paris, der außer den kurzen Auftritten der Dior-Roben textiltechnisch eher fadisiert. Everything… sehe ich hier trotz Googly Eyes ebenfalls eher chancenlos. Ganz im Gegenteil zu Black Panther: Wakanda Forever, Elvis und dem opulenten, wenn auch allgemein enttäuschenden Babylon. Knifflige Entscheidung, für die ich gerne drei Mal ex aequo Gold vergeben würde. Aber am Ende wird wohl der King über Marvel und Old Hollywood triumphieren.


Bester Song
Diese Kategorie legt mir dieses Jahr die Stirn in Falten. Normalerweise gibt es zumindest einen Disney-Burner, der sich ins Ohr wurmt und entsprechend den Oscar einsackt. Oder ein arrivierter Superstar krönt mit einem Bombast-Hit seine Karriere. Beides diesmal: Fehlanzeige. Kapazunder wie Rihanna mit Lift Me Up aus Black Panther: Wakanda Forever langweilt mit einer generischen Powerballade genauso wie Lady Gaga mit ihrem Beitrag Hold My Hand aus Top Gun: Maverick. Wer dachte, es liegt an den Songwriterqualitäten: Irrtum. Denn weder die David Byrne/Mitsiki Koproduktion This is a Life für Everything… noch die – erraten – Powerballade Applause aus Tell It Like a Woman von Oscar-Rekordhalterin (14 Best-Song-Nomierungen, kein Gewinn!) Diane Warren heben sich besonders ab. Der Oscar muss und wird daher an den Song Naatu Naatu aus dem indischen Action-Epos RRR gehen. Und somit auch Geschichte schreiben als erster Oscar für eine indische Produktion!


Beste Filmmusik
Der einzigartige John Williams ist hier zum unglaublichen 53. Mal nominiert! Er wird aber mit dem leider (passend zum Film) nur durchschnittlichen Score zu The Fabelmans keinen sechsten Oscar einheimsen. Der wird ziemlich sicher und auch in meinen Augen, äh, Ohren an Justin Hurwitz für Babylon gehen. Son Lux mit Everything…, Volker Bertelmann mit All Quiet on the Western Front undCarter Burwell mit The Banshees of Inisherin schufen zwar für sich jeweils wundervolle Musik, können aber den zugehörigen Film nicht so tragen und einbetten, wie es bei Babylon gelingt. Alles in allem aber leider ein grundsätzlich eher schwaches Jahr für die audiophile Kategorie.


Bester Sound
Immer noch unbegreiflich, warum Bester Ton und Bester Tonschnitt zusammengelegt wurden, aber bitte. Eine Kategorie, die trotz hervorragender Heimkino-Systeme einfach nur im Kino richtig ballert und verstanden werden kann. Folglich völlig zu Recht nominiert sind All Quiet on the Western Front, Elvis, The Batman sowie Avatar: The Way of Water und Top Gun: Maverick, die allesamt wirklich mit ordentlich akustischem Schmackes zur Sache gehen. Perfektion pur bei Avatar: The Way of Water und realistisches Sound-Theater in All Quiet on the Western Front können aber meiner Meinung nach der perfekten Immersion und Wucht von Top Gun: Maverick nicht ganz das Wasser reichen.

Oscars, Premieren und Rätsel: Top Gun: Maverick
Top Gun: Maverick (© Paramount Pictures)

Bestes Makeup und Haare
Auch so eine Kategorie, wo man sich analog zum adaptierten Drehbuch immer wieder frägt: soll man honorieren, was möglichst kreativ überzeichnet, oder lieber ehren, was subtil unterstützt? Für ersteres wäre The Batman, speziell Colin Farells Pinguin, exemplarisch, ebenso Brendan Fraser in The Whale. All Quiet on the Western Front und Elvis wiederum punkten mit detail- und geschichtstreuem Realismus. Black Panther: Wakanda Forever ist heuer der Styler unter den Nominierten. Obwohl ich zu der beeindruckenden Verwandlung von Brendan Fraser tendiere, könnte möglicherweise die lächerliche Woke-Debatte rund um den verwendeten Fatsuit in der Abstimmung schaden und Elvis das Rennen machen. Bemerkenswert, wie hier Austin Butler täuschend ähnlich in den King verwandelt wurde. Wenngleich auch die Maske von Tom Hanks als Col. Parker eher comicartig wirkt. Aber wie gesagt: The Whale oder Elvis it is.


Bestes Szenenbild
Normalerweise räumt in dieser Kategorie immer irgendein Historienstück ab, und auch dieses Jahr sieht es ganz danach aus. Mit vier Filmen, die alle nostalgisch im 20. Jahrhundert wildern, wirkt Avatar: The Way of Water nicht nur aufgrund der eigentlich nur via CGI erschaffenen Welt recht deplaziert. Erneut stellt sich die Frage, warum The Fabelmans hier nominiert ist, vergleichbares Nachkriegs-Design gibt es in zig Filmen eimerweise. Da legt Elvis die Latte mit authentischen Szenenbildern aus mehreren Jahrzehnten schon wesentlich höher. Ebenso All Quiet on the Western Front mit dem beklemmend realistischen Frontalltag im Krieg. Die Krone muss und wird aber Babylon mit seiner in jeder Einstellung schier aus der Leinwand kippenden üppigen Ausstattung. Alleine die Eröffnung mit Riesenorgie inklusive Elefant sprengt jeden Vergleich.  


Bester Schnitt
Der Trend geht offenbar wieder weg vom simulierten One Shot hin zu klassischem Schnitthandwerk, und das ist gut so. Verwobener, nichtlinearer Aufbau ist aber dennoch nach wie vor ein Ding, und so haben wir in dieser Kategorie sehr unterschiedliche Herangehensweisen nominiert. The Banshees of Inisherin mit seiner perfekten Balance aus Komödientiming und Schwere, Tár mit kühler, chirurgischer Präzision und Elvis mit schon fast traumartigen Montagen und Übergängen zeigen erneut, wie sehr Schnitt den fertigen Film prägt. Das Rennen wird aber wohl entweder der zwar recht „oldschool“, aber höchst effektiv geschnittene Top Gun: Maverick oder Everything… machen, die Zeichen zeigen aber meiner Meinung nach ganz klar Richtung irrwitziges Multiversum.


Fazit

Am Ende bleibt nur noch das traditionelle Hätti-Wari-Gesudere. In einer Zeit, wo eh schon alle offended sind und jede Nicht-Nominierung sofort als bösartiger „Snub“ (Brüskierung, Verächtlichmachung, Minderbeachtung) beklagt wird, kann man als ohnehin pauschal mitbeschuldigter, alter weißer Mann ruhig ein wenig gegenlamentieren. In den Kategorie-Voraussagen habe ich mich ohnehin schon genug über einige meines Erachtens nach völlig überbewertete Filme ausgelassen. Jetzt folgt eine lose Zusammenfassung diverser Filme oder individueller Leistungen, die mich einfach nur am Votingprozess ab dem Zeitpunkt der Shortlists bzw. Einreichungen rätseln lassen.

Da wäre zum Beispiel The Woman King, der alleine für Kostüme und Weibliche Hauptrolle berücksichtigt werden müsste. RRR, der auch in anderen Kategorien außer bester Song durchaus Chancen hätte. Der zwar mit einigen Schwächen behaftete, aber durchaus bemerkenswerte Nope. Über die Nichtbeachtung von The Menu will ich mich nicht gar nicht weiter aufregen. Crimes of the Future, wiewohl sicher nicht Cronenbergs beste Idee, wäre durch aus beim Makeup würdig. Der herrlich weirde Bones and All, von mir aus auch der gefloppte Amsterdam. Oder White Noise, und sei es nur wegen der fulminanten Abspann-Sequenz.

Auf der anderen Seite muss man aber auch froh sein, dass gewisse Filme gar nicht dabei sind. Gerade weil sie im vergangenen Kinojahr so hochgejazzt wurden und dann doch nur enttäuscht haben. Strange World zum Beispiel, so wie Pinocchio einer der raren Disney-Rohrkrepierer. The Good Nurse, der aus zwei Top-Leads viel zu wenig herausholt. Der letztlich doch nur aus Klatschpresse und Style-over-Substance zusammengepappte Don’t Worry Darling. Die den langsamen Tod der Marvel-Ära vorwegnehmenden Doctor Strange in the Multiverse of Madness und Thor: Love and Thunder. Vom wirklich übel schlechten Morbius ganz zu schweigen. DC, brauchst gar nicht feixen, ich sag nur Black Adam. The Bubble und Bullet Train, trotz Spitzencasts einfach nur Zeitverschwendung.

Und als alter Nestbeschmutzer sag ich noch abschließend: den ganzen Medienrummel um Corsage hätte man sich sparen können. Man sehe sich an auf welchem Niveau die tatsächlich Nominierten Auslandsfilme stehen. Ohnehin wäre Rubikon die bessere Wahl aus Österreich gewesen. Die Oscars 2023 werden uns erfreuliche Premieren bescheren und uns in mancher Kategorie noch länger rätseln lassen.  

Im Grunde sind also auch die 95. Oscars der übliche Mummenschanz aus wirklich großem Kino, verklärten B-Movies, Lobbying und narzissistischer Nabelschau. Oscars, Premieren und Rätsel. eben. Dennoch sollten alle froh sein, dass es nach zwei Jahren coronabedingter Kino-Durchhänger nun wieder uneingeschränkt möglich ist, die Bemühungen von weltweit Millionen Menschen zu würdigen, die unermüdlich Traumwelten für die große Leinwand, aber auch die Glotze daheim erschaffen. Ich bin es zumindest.  

Die Oscar-Verleihung wird in der Nacht von 12. auf 13. März ab 01:00 Uhr auf ORF 1 Live übertragen.