AKUT

Bobo Trash. The Killing.

Es war dieser eine Moment. Wir saßen beim Abendessen. Ich schielte mit einem Auge zu den Nachrichten im Fernseher. Mir gegenüber lehnte O. schief über dem Teller, er blätterte in einer Autozeitschrift. Die Kinder waren schon im Zimmer. Man hörte sie streiten: „Nein, ich bin Mario!“ „Nein ich bin Mario!“ „Nein, du bist Luigi!“ „Nein, du bist Luigi!“ „Du Schleim!“ „Du Arschloch!“ Dann kamen sie an, weinend, der eine wollte kein Schleim sein, der andere kein Arschloch. Ich war wütend, weil ich jetzt den Moderator der Sendung nicht mehr verstand.

O. blickte nicht auf, er war vertieft in eine Designkritik des Autos des Jahres. Die Kinder weinten mich erwartungsvoll an, ich stierte überfordert zu O. Und der glotzte weiter autistisch ins Heft. Da wusste ich: Wir sind eine Boboversion von White Trash, also Bobo Trash, Junkjunkies im Manufaktum-Haushalt, süchtig nach Ablenkung, weit weg voneinander. Unsere Seelen in Fransen. „So“, sagte ich mutig und schluckte. „Wir machen einen Entzug. Ab morgen gibt es eine Woche lang: Nichts. Kein Fernsehen, keine Nachrichten, daher auch kein Internet, keine Konsolenspiele – und keine Autos. Nicht online, nicht im Heft und nicht zum Drinsitzen.“ Nach anfänglichem unbändigen Gelächter von O. und beginnenden Sirenen der Kinder sagte ich: „Ich meine das ernst. Wir müssen wissen, ob wir das können.“ Den Abend beendeten wir in einer trauten Pokémon-Go-Runde um den Block, alle vier schluchzend. Der erste Entzugstag ließ sich ganz gut an, es wurde nicht verschlafen. Niemand verweigerte die Zahnbürste. Es machte mir überhaupt nichts aus, nicht sofort im Handy nach den News zu sehen, die Facebook-App hatte ich am Vorabend sorgsam gelöscht. Wir gingen alle rechtzeitig aus dem Haus und dann standen wir da. Weil Auto war ja nicht. O.s Nasenflügel flatterten. Er blieb gefasst. Wir rasten hinunter zur Straßenbahn-Haltestelle. Sie hatte die interessante Eigenheit, dass man sie schon von der Weite sah, doch sie schien trotz hohem Lauftempo immer ein Stück weiter wegzurücken. Bim also verpasst, zu spät zur Schule, zu spät in den Kindergarten, zu spät zu unseren Terminen. Letzteres war aber gut, denn wenn man zu früh bei Terminen war, vertrieb man sich oft die Zeit im Internet. Musste ich nun nicht mehr. Der Tag stolperte so dahin, wenn jemand auf der Straße leise Dinge wie „Hast du schon gehört“ oder „Schau einmal …“ wisperte, bekam ich Ohren in AKH-Größe, vielleicht war da etwas Wichtiges dabei. Ich saß ja auf der Insel des Hier und Jetzt fest. Ein- oder zweitausend Mal fluchte ich schon, entweder weil ich etwas nicht wusste, aber nicht am Smartphone nachschauen durfte, oder weil man nicht mit dem Auto gefahren war und jetzt den ganzen Einkauf durch die Öffis schleppen musste. Es gibt übrigens noch die Fahrpläne ausgedruckt aufgehängt an den Haltestellen. Wusste ich gar nicht, sehr nett, sehr retro. Die Straßenbahn hätte mich dann auch beinahe in die Pfanne gehaut, manche Wagons haben Screens. Ich stierte die ganze Fahrt auf den Boden und sah dabei wohl gruselig aus, jedenfalls setzte sich niemand zu mir.

Zu Hause bot sich mir ein Bild des Jammers. Die Kinder saßen zusammengekauert auf der Couch und fixierten misstrauisch je ein Prädikat-wertvoll-Kinderbuch von außen. „Traut euch, es kommt kein Krokodil rausgeschossen, wenn ihr reinschaut“, lockte ich witzig. Panisch wurden die gefährlichen Dinger ins Eck gefetzt und die Kinder begannen sich in ihrer Verzweiflung zu tögeln. O. saß in der Badewanne. Es fiel ihm sonst nichts ein und für Kochen fühlte er sich zu geschwächt. Er war blass. Hastig schaffte ich Eierspeis und Butterbrote heran, was man halt ohne Konzentration gut hinkriegt. Jetzt wurde es lange. Man glaubt ja nicht, wie ergiebig an Zeit so ein Abendessen ist, ganz ohne Ablenkung und ausgiebige Diskussion über Konsumation der Ablenkung. Ich fragte die Kinder, wie der Tag war. „Gut.“ Was habt ihr gegessen? „Nichts.“ Dann fragte ich O., wie sein Tag war. „Gut.“ Was hast du gegessen? „Echt jetzt?“ „Okay. Was sagst du zu dem Wahnsinn in Aleppo?“ „Zwei Leberkässemmeln.“ Geht doch. Die Kinder spielten nun Aufkehren unter dem Bett, das heißt, einer war der Besen und der andere schleuderte ihn hin und her. Ich staubte sie notdürftig ab und wurde depressiv. Nun, es war schon 19 Uhr, warum nicht einmal früher schlafen gehen. Wir lasen uns gegenseitig ein wenig vor. Es ging um Klimawandel, erklärt für Kinder. Es kam uns verstörend und langweilig vor. 20 Uhr Licht ab, Zapfenstreich. In der Nacht wachte ich auf, schweißgebadet. Hatte mich heute jemand retweetet? Der letzte Beitrag, wie viele Likes? Hatte ich etwa eine interessante Freundschaftsanfrage? Nein, war ja nicht wichtig. Wir waren wenigstens gesund. Oh Gott. Wahrscheinlich gab es in den Medien schon Atomwarnungen und wir waren die Einzigen, die sich noch nicht im Bunker versteckten. Oder jemand ganz Arger war gestorben. Und ich wusste von nichts. Überhaupt, bald würde ich an keinem Gespräch mehr teilnehmen können, uninformiert wie ich war. Sozialer Abstieg, Kündigung gut möglich. Ich musste wahrscheinlich bald ins Frauenhaus. Ich schlich ins Wohnzimmer, ein kleiner Blick auf die ORF.on-Seite – nur damit das allergrößte Unglück von der Familie abgehalten werden konnte. Da saß er, der Verräter. Mit Taschenlampe und Tablet lustwandelte O. im Autohimmelinternet. „Arschloch“, sagte ich und tätschelte ihn. Er sah nicht auf. „Du Schleim“, antwortete er zärtlich. Im Kinderzimmer hörte man ein nächtliches Kichern. Der Gameboy piepste freundlich. Gerührt verzieh ich mir die Kapitulation, die sich in mir formte. Ab morgen wieder modern und miteinander aneinander vorbei. „Find what you love, and let it kill you“, sagte einst Charles Bukowski. Und der hatte ja wohl immer recht.

Wenn sie nicht liest oder Musik hört, arbeitet die zweifache Mutter selbstständig als Kommunikationsmanagerin und freie Autorin.