AKUT

Die großen Katastrophen seit 1979 und ihre Wirkung

Vom Guten des Schlechten

Text: Harald Havas / Fotos: Getty Images

Friedrich Torberg hat in seiner Anekdotensammlung „Die Tante Jolesch“ dem kollektiven Wiener Gedächtnis einiges Denkwürdiges hinzugefügt. Unter anderem das Erzherzogspiel, auch genannt „Exzellenzen prüfen“. Angeblich war dieses ein beliebter Zeitvertreib unter Kaffeehausliteraten in eben diesen. Dabei geht es um Folgendes: Ein Erzherzog wird von einem Lehrer geprüft. Der Erzherzog ist allerdings (naturgemäß) dumm und ungebildet und gibt auf eine leichte, ja selbsterklärende Frage eine unsägliche bis paradoxe Antwort. Also etwa:

Frage: „Wie lange dauerte der 30-jährige Krieg?“

Antwort: „Sieben Jahre.“

Der Prüfer steht nun vor einem Problem. Er kann die Exzellenz natürlich nicht durchfallen lassen, andererseits kann er auch nicht eine falsche Aussage so einfach als richtig werten. Daher besteht seine Aufgabe nun darin, die falsche Antwort durch Kreativität zu einer richtigen zu machen. Soll heißen, er erklärt etwa, dass der 30-jährige Krieg durch Kriegspausen, wenn man die Nacht abrechnet usw., tatsächlich sieben Jahre gedauert hat …

Darum geht es hier nicht.

Worum es hier geht, ist die Tatsache, dass gerade auch das, was zum jeweiligen Zeitpunkt als größte denkbare Katastrophe erschien, tatsächlich eine Wendung zum Positiven hervorrief. Ja, so paradox es erscheint, gerade die größten Katastrophen der Menschheit haben oft zu den bedeutsamsten Fortschritten geführt. Sei es technisch, politisch oder philosophisch.

Auch in den letzten 40 Jahren hat es gehörig gekracht. Und wenn auch im Rückblick eher der Angstschauer dominiert, die Auswirkungen waren und sind oft verblüffend positiv.
Hier ein kleiner Überblick mit augenzwinkernder Referenz auf Friedrich Torberg.


Das Gute an 9/11
Wieso der Terroranschlag auf New York mehr als nur das Schuhe-Ausziehen auf Flughäfen brachte

Der Einsturz des World Trade Centers in NYC, das heißt der Twin Towers, zusammen mit dem Brand, dem Einsturz und den Schäden an anderen Gebäuden durch zu Projektilen umgestaltete Zivilflugzeuge hat unsagbares Leid angerichtet. Insgesamt waren vier Flugzeuge beteiligt: zwei trafen die Wolkenkratzer, eines das Pentagon und ein weiteres, das durch das beherzte Eingreifen der Passagiere auf freiem Land zerschellte, hatte Washington im Visier (so weit die offizielle Version, die seither nicht wenige Kontroversen und Verschwörungstheorien auslöste). Auch heute noch leiden und sterben Menschen aufgrund des Anschlags. In die Schlagzeilen geraten dabei etwa immer wieder die Veteranen des Rettungseinsatzes in New York, die regelmäßig bei der amerikanischen Regierung um die Verlängerung ihrer medizinischen Versorgung kämpfen müssen. Etwa die Behandlung von Krebserkrankungen, die durch die Asbestdämpfe aus den brennenden Gebäuden verursacht wurden.

Hier das Gute zu finden, ist schwierig. Allerdings führten diese Anschläge weltweit zu einer höheren Aufmerksamkeit und zu verstärkten Sicherheitskontrollen, nicht nur auf Flughäfen. Das mag zwar im Einzelfall lästig sein und manchmal sogar paranoid wirken, aber – obwohl sich das nicht wirklich berechnen und beweisen lässt – es kann optimistischerweise davon ausgegangen werden, dass diese Maßnahmen im Nachhall des 11. Septembers inzwischen mehr Menschen das Leben gerettet als die Anschläge selbst gekostet haben. Ganz abgesehen davon, dass – quasi als „unerwünschte Nebenwirkung“ – die Sensibilität der Menschheit für den Überwachungsstaat und seine Auswüchse nicht nur geschärft wurde, sondern vielerorts erst entstand. Den Beweis dafür, dass derlei Entwicklungen immer eine Wechselwirkung erzeugen, liefern Menschen wie Julian Assange oder Edward Snowden und ihre nur schwer durch „rechtsstaatliche Verfolgung“ abwürgbaren Publikationen.


Das Gute an Tschernobyl und Fukushima
Die größten Atomkatastrophen der Welt und ihre segensreiche Wirkung

Am 16. März 1979 kam der Film „Das China-Syndrom“ mit Jane Fonda, Jack Lemmon und Michael Douglas ins Kino. Darin wird ein fiktiver Unfall in einem Atomreaktor geschildert. Zwölf Tage darauf wurde aus der Fiktion Wirklichkeit: Im amerikanischen Atomkraftwerk Three Miles Island kam es zu einer Kernschmelze. Beides erschütterte die Atomkraftgläubigkeit der Nachkriegszeit erheblich. Bis dahin gab es nämlich kaum Risse in der Verherrlichung des wunderbaren Atomzeitalters und seines Überflusses an billigem Strom. Ja, Österreich wurde geradezu verlacht, als es nur ein halbes Jahr zuvor bei der Zwentendorf-Abstimmung den Ausbau der Atomkraft in Österreich für alle Zeiten untersagte. Ein Jahr später lachte niemand mehr. Doch der Warnschuss vor den Bug durch das Universum verhallte bald. Also legte das Schicksal einen Scheit nach, und 1986 kam es zur Atomkatastrophe in Tschernobyl. Die Schätzungen der unmittelbar und langfristig seit damals durch den Austritt der Radioaktivität getöteten Menschen liegt zwischen 4000 und 60.000 – weltweit. Denn die strahlende Wolke machte nicht an der ukrainischen Grenze halt. Diese Katastrophe war nun tatsächlich ein Wendepunkt und der erste Sargnagel im Geschäftsmodell der Atomindus­trie. Aber es bedurfte einer weiteren Katastrophe, Fukushima (2011), um den ersten großen Staat der Welt, nämlich Deutschland, zu einem kompletten Atomausstieg zu bewegen. Der allerdings noch ein paar Jahre dauern wird. Aktuell sind noch über 450 Reaktorblöcke in Betrieb und 50 weitere im Bau. Hoffen wir, dass der Umstieg in den nächsten 40 Jahren auch ohne weitere Katastrophe gelingen wird.


Das Gute an Exxon Valdez und anderen Öl-Störfällen
Schleichende Katastrophe als letzter Weckruf zur Umkehr

Die Gefahr durch die massive Verbrennung fossiler Energieträger wie Öl und Gas und die nachhaltige Schädigung unserer Umwelt sind beileibe keine Erkenntnisse der letzten Jahre. Tatsächlich gab es seit Beginn und quer durch das 20. Jahrhundert immer wieder Wissenschaftler und Studien, die vor der durch den Menschen verursachten Veränderung des Weltklimas warnten. Die Steigerung der Welttemperatur etwa wird schon seit Langem beobachtet. Und es gab immer wieder Menschen, die sich einer simplen Tatsache schmerzhaft bewusst waren: Unsere Atmosphäre ist extrem dünn. Man stelle sich einen Apfel vor. Und darauf eine Staubschicht. Der Apfel ist die Erde, die Staubschicht unsere Atmosphäre. Und da soll noch einmal jemand behaupten, plus zwei Jahrhunderte massiver Verbrennung nicht dem natürlichen Kreislauf entnommener Materialien durch eine exponenziell wachsende Menschheit hätte hier keine Auswirkung? Hat sie. Das ist Fakt. Und von Eisbären ohne Eis bis Inselbewohner ohne Inseln sowie Bauern ohne Wasser machen sich die Auswirkungen des neuen geologischen Zeitalters, genauer gesagt der neuen geochronalen Epoche, des Anthropozäns, bemerkbar. Ein neues Zeitalter, in dem der Mensch die gesamte Biosphäre der Erde prägt. Und nicht zum Besseren.

Was daran positiv sein kann? Der Zwang zur Umkehr. Aber: Außer, dass es hierzulande nun schon im Mai recht warm sein kann (eher positiv konnotiert), spürt man in seinem höchstpersönlichen Alltag recht wenig davon, durch mahnende Worte und Logik hat sich die Menschheit noch selten dazu bewegen lassen, unbequeme Maßnahmen zu ergreifen. Da braucht es schon plakative Bilder – etwa jene von gigantischen Ölteppichen auf Weltmeeren, die alles Leben im Umkreis vieler Kilometer feist anschaulich vernichten. Wenn es uns angesichts der Katastrophen in den wenigen verbleibenden Jahren vor dem Point of no Return gelingt, eine nachhaltige Wende zur nachhaltigen Energienutzung und somit eine lebenswertere Welt für Mensch und Tier zu schaffen, dann könnte uns allen ein neues goldenes Zeitalter bevorstehen. Falls nicht, eher das Gegenteil.


Das Gute an Trump
Wie ein Präsident Amerika zwar nicht wieder groß gemacht, aber dafür aufgeweckt hat

Kann man Donald Trump mit gutem Gewissen in die Aufzählung der größten Katastrophen der letzten 40 Jahre mitaufnehmen? Der Autor dieser Zeilen meint ja. Denn neben der Vergiftung der amerikanischen und internationalen politischen Atmosphäre, dem Aufkündigen wichtiger Verträge, sei es der Atomdeal mit dem Iran oder dem Pariser Klimaabkommen, sowie dem Zurückrollen wichtiger Umweltauflagen in den Vereinigten Staaten hat der Präsident auch schon tatsächlich Menschenleben auf dem Gewissen. Etwa eine Vielzahl von Selbstmorden amerikanischer Farmer, die aufgrund von Donald Trumps Verordnungen in Konkurs gingen. True story. Ganz zu schweigen von den humanitären Katastrophen und Traumata, die Trumps Politik an der Südgrenze der USA – Stichwort Trennung von Eltern und Kindern – bereits ausgelöst hat.

Doch gerade in seinem Fall lässt sich die positive Auswirkung seiner (Un-)Taten bereits nachweisen: Das politische Interesse und die Zivilgesellschaft in den USA sind so stark wie nie zuvor, reihenweise junge Menschen, besonders viele davon Frauen und/oder VerterInnen von Minderheiten, wurden 2018 in den Kongress gewählt, der dadurch eine demokratische Mehrheit erhielt; alte Machtblöcke beginnen zu bröseln und zuvor als radikal angesehene Ideen wie universelle Gesundheitsversorgung oder Reichen-Steuern werden durch namhafte progressive Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei gefordert und hoffähig gemacht. Das nur als zwei Beispiele. Noch ist der Kampf nicht entschieden, aber wenn man so will, hat die Präsidentschaft von Donald Trump die Chance, langfristig mehr Gutes zu bewirken als die des Musterpräsidenten Barack Obama.


Das Gute an rechten Terroranschlägen: Norwegen 2011, Neuseeland 2019
Rechtsextremer Terror als Augenöffner und Fokuswechsler

Die Anschläge eines rechtsextremen Terroristen, wir wollen ihn im Sinne der Nicht-Verherrlichung solcher Täter schlicht „den Täter“ nennen, in Norwegen 2011 erschütterten nicht nur das friedliche Land im Norden Europas. Es waren zwei Anschläge, unterschiedlich in der Ausführung, aber beide tödlich. Zuerst zündete der Täter im Regierungsviertel von Oslo eine Autobombe. Acht Menschen starben. Und während noch Medien und Bevölkerung schockiert auf diesen Anschlag starrten, machte sich der Täter bereits auf den Weg zu einer Ferieninsel, auf der gerade das jährliche Zeltlager einer sozialdemokratischen Jugendorganisation stattfand. Als Polizist verkleidet nutzte er ausgerechnet seinen eigenen Anschlag als tödliche Falle: Er versammelte möglichst viele Menschen unter dem Vorwand, sie über die Bombe in Oslo zu informieren, und eröffnete dann ohne Vorwarnung das Feuer. In den nächsten 75 Minuten kamen 69 Personen ums Leben, die Hälfte davon unter 18 Jahre alt.

Wenn man dieser Tragödie wie auch dem Attentat auf die Moschee in Neuseeland etwas Gutes ab­gewinnen will, bleibt nur ein schwacher Trost: Die Anschläge von Norwegen und der von Christchurch haben den Fokus auf die Problematik von rechtsextremem Terror gelenkt. Und darauf, dass die voranschreitende Spaltung der Gesellschaft (derzeit vorherrschend: wir „weißen Christen“ gegen Schwarze und Moslems) zu Gewalt an mehreren Fronten führt. Und auch zu weißen christlichen Opfern weißer christlicher Täter. Das Gute daran? Die sich hoffentlich durchsetzende Erkenntnis, dass es nicht zuvorderst um Kampf gegen irgendwen geht, sondern um den solidarischen Zusammenhalt aller friedlichen und humanistisch eingestellten Menschen, egal welcher Ethnie, welcher Religion und welchen sozialen Standes. Derzeit kaum mehr als eine Hoffnung. Aber eine, die sich durchsetzen muss, um uns aus dem aktuellen Schlamassel zu führen.


Das Gute an den Balkankriegen
Sie zeigen die Alternativlosigkeit zu Friedensprojekten à la EU.

Zu den sogenannten Balkankriegen, korrekt eigentlich Jugoslawienkriege, zählt man sechs unterschiedliche Konflikte auf dem Staatsgebiet der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Noch kurz vor deren Ausbruch hätte kaum jemand gedacht, dass ein derartiger Bruderkrieg unter seit Jahrzehnten zusammenlebenden Völkern und Nationalitäten überhaupt möglich wäre. Und dennoch gab es hier von 1991–2001 Krieg und kriegerische Konflikte – die einzigen in Europa seit 1945. Die erste Lehre, die sich daraus ziehen ließ, war, dass ein (mehr oder weniger) totalitäres Regime ethnische, religiöse und nationalistische Konflikte zwar über lange Zeit unterdrücken, sie aber nicht lösen kann. Und wenn die zentrale Macht wegfällt, brechen sie wieder aus.

Die Zahl der Toten der Jugoslawienkriege überstieg 100.000. Und die Wunden von damals in Form von Kriegsschäden, Verwundungen, Krankheiten oder Folgen von Vergewaltigungen sind noch
lange nicht überwunden.

Es ist daher schwer, nicht zynisch zu erscheinen, wenn man das Positive in diesem Konflikt finden möchte. Und tatsächlich scheint es auf der Makroebene auch nur eine einigermaßen positive Auswirkung zu geben: Die Alternativlosigkeit einer liberalen, westlich geprägten Demokratie hat sich inzwischen in fast allen ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens durchgesetzt. Und der Krieg hat die Aufnahme der ersten von diesen, nämlich Slowenien und Kroatien, in die EU deutlich beschleunigt. Wenn man die EU, abgesehen von seltsamem Bürokratismus, als das sieht, was sie tatsächlich ist, nämlich das wichtigste Friedensprojekt auf europäischen Boden
jemals, dann ist das eindeutig etwas Gutes.


PS

Wer möchte, kann in amerikanischen Medien aktuell täglich das Erzherzogspiel live erleben. Kein Tag, an dem Donald Trump nicht etwas schrecklich Dummes, Unmenschliches und/oder Selbstschädigendes von sich gibt. Gefolgt von einer Heerschar von Vasallen und rechtskonservativen Journalisten, die erklären, dass der Präsident gar nicht gesagt hat, was er gesagt hat. Bzw. was er wirklich gemeint hat, als er gesagt hat, was er (nicht) gesagt hat. Fast schon lustig.